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Die Hasen sind
nicht, was sie scheinen
Am Anfang steht die schwarze Leinwand: Now it's dark.
Dann flammt ein Scheinwerfer auf, ein Moment wie aus dem Schöpfungsmythos.
Nur wird in diesem Film nicht von der Dunkelheit, sondern vom Licht die Bedrohung
ausgehen; vom Licht, das bleiche Gesichter strahlen läßt, das durch
offene Türen fällt, aus denen Fremde treten und durch die man das
Böse in die Welt hinaustragen kann. In jeder der folgenden 172 Minuten
regnen unzählige solcher Motive und Assoziationen auf den Zuschauer nieder,
manchmal ziehen sie vorbei und kehren später wieder, winken kurz, müde,
verschwinden dann endgültig im Nebel des Mysteriums. David Lynch verabschiedet
sich von der Narration und driftet in den Symbolismus der Marke Matthew Barney
ab, sein neuer Film ist ein Überforderer, ein Erschöpfer, der satte
drei Stunden lang am Zuschauer nagt und schleift und rüttelt, und wenn
Roger Willemsen recht hat mit seiner These, daß Kunst immer bedeutet:
Überforderung des Publikums, dann ist das hier ganz große Kunst.
Das Geheimnis von David Lynch ist seine Fähigkeit,
das zutiefst unfilmische Prinzip der Homonymie auf der Leinwand umzusetzen:
daß ein Ding nämlich viele Dinge sein kann, parallel und paradox,
daß man aus demselben Fenster ebenso einen hellen Hof sehen kann wie ein
dunkles Filmset; daß ein simpler Gegenstand, ein Schraubenzieher, ein
Telefon, eine Tür (oder auch: eine Kamera, ein Scheinwerfer) zugleich ein
anderer sein kann, nicht nur metaphorisch, ganz haptisch. Folgerichtig weitergedacht
landet man bei einem Zitat von Heiner Müller, demzufolge ein Mensch immer
viele Menschen ist, und so steht im Zentrum dieser halluzinatorischen Raumzeitverzerrung
namens "Inland Empire" auch gleich mehrmals Laura Dern, als schmierige
Straßenhure, als glamouröser Filmstar, als schüchterne Südstaatenschönheit,
als schizophrene Version einer Frau im Traum im Film im Traum einer anderen
schizophrenen Frau. Laura Dern, wie sie sich durch den Film weint, flüstert,
schreit und stirnrunzelt, ohne ein einziges Mal die so essentielle Körperspannung
aufzugeben, das ist nichts weniger als sensationell.
Alle in diesem Film vorbeiziehenden Welten sind natürlich
gespickt mit den üblichen Lynch-Schauspielern in den üblichen Lynch-Rollen:
Grace Zabriskie schlafwandelt als Zwerg-Alien mit rollenden Augen und ebensolchem
Akzent durch die Szenerie; Harry Dean Stanton schnorrt sich als verwirrt-sympathischer
Kauz über ein Filmset; Diane Ladd grinst sich als haßgeifernde Hexe
durch ihre eigene Talkshow. Dazu Cameos von Freunden, die in den fünf Jahren
improvisierter Drehzeit gerade Zeit und Lust hatten, kurz vorbeizuschauen: William
H. Macy, Nastassja Kinski oder Mary Steenburgen laufen mal kurz durchs Bild,
verbreiten düstere Vorahnung und gehen dann wieder. Durch seine streckenweise
krakelige digitale Handkamera ist der Film weniger Stream of Consciousness,
mehr Zettelkasten, Skizzenblock. Dazu passend findet in "Inland Empire"
auch die berüchtigte Kurzfilmreihe Rabbits ein neues Zuhause, wenn auch
keinen nachvollziehbaren Anschluß. Aber wie sollte man auch eine Handvoll
Szenen mit humanoiden Hasen, die zu unpassend eingespielten Lachern und Applaus
bügeln und fernsehen, schlüssig in ein narratives Konzept integrieren?
Im Gedächtnis bleiben nach diesem Feuerwerk
der Verwirrungen und Messalliancen vor allem die narrativen Sprünge: durch
polnische Nebenhandlungen, durch Meta-Realitäten und Traumbilder, durch
Identitäts- und Maskenwechsel, durch verschiedene Kamerastile und Filmmaterialien,
zu denen Badalamentis Soundtrack gewohnt irrwitzig und pompös den Jazz
zu Grabe trägt. Die zahlreichen Risse führen zwangsläufig zu
einem Point Break beim Zuschauer: Wenn die imaginären Freundinnen der Hauptfigur
im Formationstanz zur "Locomotion" abrocken, stirbt die letzte Hoffnung
auf narrative Kohärenz. Aber wenn jede Tür in eine andere Welt und
einen anderen Zustand führt, lernt man irgendwann auch, loszulassen, sich
treiben zu lassen. In einem Interview beschreibt Lynch seine Erfahrungen mit
der transzendentalen Meditation als Spaziergang "zum Ufer der Relativität.
Und dann gleitet man hinein. Man transzendiert ins Absolute." Wer nach
anderthalb Stunden "Inland Empire" dieses Gefühl nicht nachvollziehen
kann, wird wohl frustriert den Saal verlassen. Alle anderen sind erleuchtet.
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
USA/Polen/Frankreich 2006. R, B, Sch, T: David Lynch.
P: Mary Sweeney, David Lynch. K: Odd-Geir Sæther.
A: Christine Wilson, Wojciech Wolniak. Ko: Karen Baird,
Heidi Bivens. Pg: StudioCanal/Camerimage 2/Asymmetrical/Inland Empire. V: Concorde.
L: 172 Min. Da: Laura Dern (Nikki Grace/Sue), Jeremy Irons (Kingsley), Justin
Theroux (Devon Berk/Billy Side), Harry Dean Stanton (Freddie), Julia Ormond
(Doris Side), Peter J. Lucas (Piotrek Krol), Terryn Westbrook (Chelsi), Diane
Ladd (Marilyn), Ian Abercrombie (Henry).
Start: 26.4.2007 (D, CH), 4.5.2007 (A)
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