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In This World
Berlinale-Kritik
Glückwunsch zur Programmierung, Herr Kosslick. Stärker hätte der Kontrast zwischen dem außer Konkurrenz laufenden Eröffnungsfilm und dem ersten richtigen Beitrag zum Wettbewerb nicht ausfallen können. Wo „Chicago“ sich ohne alle Reue in Kunstwelten tummelt, hartschalig abschließt gegen alles, was mit der Realität außerhalb von Song-and-Dance zu tun haben könnte, unternimmt der britische Regisseur Michael Winterbottom mit „In This World“ das gerade Gegenteil. Sein Film erzählt die Geschichte einer Reise, die in Peshawar an der pakistanischen Grenze ihren Ausgang nimmt und die Cousins Enayat und Jamal (der, gerade mal sechzehn Jahre alt, nur mitkommt, weil er Englisch spricht) ins gelobte Land, genauer: nach London führen soll.
Dünn
ist die Linie zwischen Realität und Fiktion. Die Reise, von der der Film
berichtet, haben Winterbottom und sein kleines Team tatsächlich unternommen,
die beiden großartigen Hauptdarsteller wurden in Pakistan gecastet, viele
der Szenen auf den Straßen von Peshawar, Teheran und Istanbul haben dokumentarischen
Charakter. Dazu trägt die Digitalkamera bei, mit der man gedreht hat, in
gelbstichigen, wackligen Bildern, die sich gelegentlich ins beinahe Unentzifferbare
auflösen, in schwarz-weißes Gegrissel etwa beim Grenzübergang
vom Iran in die Türkei. Ein Dokumentarfilm ist „In This World“, der ersten
Anmutung zum Trotz, jedoch mit aller Entschiedenheit nicht. Zweimal meldet sich
aus dem Off ein Sprecher erläuternd zu Wort, danach spricht das Gezeigte
für sich. Die Bilder aber, die Szenen, die Figuren werden in die Struktur
des Road Movie eingefädelt, mit vorgegebenen Dialogen, Auslassungen, Spannungsmomenten
– entlang einer zur Orientierung regelmäßig eingeblendeten Karte,
auf der die Route eingetragen ist.
Dazu
kommen Ortsangaben, in großen Lettern wie auf die digitalen Bilder getüncht,
aber rissig, durchlässig für die Landschaften, die zu sehen sind.
Dies Verhältnis von Vorder- und Hintergrund kennzeichnet Winterbottoms
Verfahren im ganzen: in die Szenerie der Wirklichkeit wird die fiktive, aber
nach wahren Begebenheiten modellierte Erzählung wie al fresco eingetragen.
Der Raum der Fiktion schließt sich um den dokumentarischen Kern, mit allen
Konsequenzen. Der Betrachter ist aufgefordert zum Mitfiebern wie zum Mitleiden,
nicht zuletzt durch die Musik. Ohne Zurückhaltung untermalt Winterbottom
seine Bilder mit emotionalen Orchesterklängen, verstreicht die Momentaufnahmen
ins Flächige eines Nacheinander, das keine Längen kennt. Das heißt
auch: von der Erfahrung, die geschildert wird, von Stunden, Tagen, Wochen des
Ausgeliefertseins, des Nichtstuns und des Nicht-Weiter-Wissens, die eine solche
Flucht ausmachen, gibt es nur Auszüge, Andeutungen und Ahnungen.
Das
ist kein Fehler des Films, denn er behauptet nirgends, dass mehr zu zeigen wäre
als Annäherungen ans Unbegreifliche eines solchen lebensgefährlichen
Unternehmens. Dezent bleibt die Kamera in den finstersten Momenten – die in
Wahrheit Ewigkeiten sind, während der Überfahrt per Schiff von der
Türkei nach Triest. Tagelang sind Jamal, Enayat und weitere Flüchtlinge,
darunter ein Baby, eingesperrt in einen finsteren Container, ohne Nahrung, Wasser,
frische Luft. Andere Bilder aber als ein gelegentliches Flickern, sekundenkurze
Blicke in gequälte Gesichter zeigt der Film nicht. Auf alle Ausbeutung
der Schicksale, von denen er erzählt, verzichtet er. Und berührt doch,
gerade durch die Selbstverständlichkeit, mit der er vorgeht.
Zu
sehen sind nicht nur Bilder aus fremden Welten, sondern auch die im Verlauf
der Reise fürs westliche Auge zunehmend vertrauten Umgebungen werden unterm
Blick der Migranten plötzlich fremd. Und wie von selbst wird einem klar,
was, wie Winterbottom unumwunden feststellt, von Anfang an die Botschaft seines
Projekts gewesen ist: Kalten Herzens von Elendsflüchtlingen zu reden, die
so eilig wie möglich auszuweisen sind, ist ein Wohlstandszynismus, der
nichts als Verachtung verdient. Am Ende übrigens, ist in der Pressekonferenz
zu erfahren, hat die Realität den Film dann endgültig eingeholt: Jamal,
der nach Ende der Dreharbeiten in seine Heimat zurückgekehrt war, hat die
Flucht gewagt, lebt nun mit außerordentlicher Duldung in London und wird
am Tag vor Vollendung seines 18. Lebensjahrs abgeschoben werden.
„In
This World“ erhielt bei den Berliner Filmfestspielen 2003 den „Goldenen Bären“.
Ekkehard
Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
In
This World
Großbritannien
2002 - Regie: Michael Winterbottom - Darsteller: Jamal Udin Torabi, Enayatullah,
Imran Paracha, Jamau, Hossain Baghaeian, Hiddayatullah, Erham Sekizcan, Yaaghoob
Nosraj Poor - FSK: ab 12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 89 min. - Start:
18.9.2003
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