Claire und Jay haben ein rein sexuelles Verhältnis. Jeden Mittwoch klingelt
sie bei ihm. Sie reißen sich hastig die Kleider vom Leib, schieben hastige,
hechelnde Nummern, als ginge es um ihr Leben, und dann trennen sie sich
genauso hastig wieder, um nur nichts übereinander zu erfahren. Nicht einmal
ihren Namen weiß Jay, ein Barkeeper um die Dreißig, aber gerade diese
Anonymität scheint beide aufzugeilen, und der Film gibt sich Mühe diese
Geilheit genauestens zu protokollieren. Detailliert und ohne Pornographisches
zu scheuen zeichnet die Kamera eine verzweifelte fleischliche Gier, die
atemlose und anonyme physische Abfuhr eines psychischen Drucks, der
einem unschönen offiziellen Alltag entstammt - so scheint es.
Dunkel, dunkel und unerfreulich ist die Welt ringsum. Im Dunkel bleibt die
gescheiterte Ehe Jays, die ihn so sehr traumatisiert hat, dass er immer wieder
zurückdenken muss an die kalte, abweisende Gattin, die ihn nicht mehr
ranließ, an seine (eher hilf- und teilnahmslose) Beziehung zum gemeinsamen
Sohn. Die Ehe, das ist der Tod, das ist seine Erkenntnis, eine Erkenntnis, die
auch der Film zu hinterfragen keine Anstrengung unternimmt. Verloren und
verkorkst sind die wenigen Freunde Jays, einer wohnt ein paar Tage bei ihm,
kein Symphatieträger ist diese aggressive unsensible Figur, muss man sagen.
Aber auch Jay schneidet nicht gut ab. Das einzig Nachvollziehbare an ihm ist
seine Sehnsucht nach Nähe, die er, wie es unerwachsene Menschen häufig zu
tun pflegen, durch körperliche Nähe ersetzen will, was natürlich - und manche
wissen das bereits mit 16 Jahren - nicht klappen kann. Eigentlich noch
unerfreulicher ist die etwas ältere Claire. Denn sie ist verheiratet und nicht in
der Lage, sich von ihrem Mann zu trennen, dessen schwammiges Äußeres ihr
wirklich nicht große Lust bereiten mag, und der in seiner ihr gegenüber
unterwürfigen Art auch nicht mal beim Zuschauer punktet, aber den sie vor
allem, und das ist das Hauptproblem, nicht liebt. Sonst würde sie ihn nicht
hintergehen. Punkt.
Dunkel, dunkel ist also diese Welt, und in dunklen Abhängigkeiten oder
Einsamkeiten gefangen sind ihre Bewohner. Gegebenheiten, denen sie nicht
entkommen können, weil die Welt es nicht erlaubt – behauptet der Film.
Weil keiner in „Intimacy“ erwachsen werden möchte oder werden darf,
behaupte ich. Freie Entscheidungen oder ein freies Interesse, wenigstens eine
versuchte Anteilnahme an dem oder den anderen ist fast allen Figuren
verwehrt, als gäbe es sowas gar nicht, oder – noch schlimmer - als seien sie
nicht mal denkbar. Der schwule Kollege Jays, ist der einzige, der bemerkt,
wie falsch und leblos Jays Leben ist. Aber auch er traut sich nicht, (oder auch
er weiß es nicht besser) Jay zu sagen, dass Jays Leiden nur dessen eigener
Egozentrik entspringt. Lieber guckt auch er gequält und leidet mit Jay, Claire
und wie sie alle heissen, an der fatalen Kälte dieser schrecklich inhumanen
modernen Gesellschaft.
Wir alle, vielleicht sogar inklusive der Protagonisten, hätten wirklich etwas
über unsere ja wirklich nicht angenehme Welt und unsere Schwierigkeiten
darin lernen können, wenn wenigstens eine Figur im Film versuchen würde,
etwas mit einer anderen anzufangen, was aber bedeutet hätte, dass eine Figur
mit einer anderen etwas anfangen, also buchstäblich beginnen, sich - und sei
es auf noch so unvollkommene und neurotische Weise – für eine andere
interessieren würde, aber an derlei fehlt es in „Intimacy“ völlig. Erst durch
eine wirkliche Interaktion hätten sich die wirklich schönen, weil schwierigen
Probleme ergeben, die Leben in einen Film bringen. So aber bleibt es bei
Beschreibungen von Unmöglichkeiten, von düsteren Zuständen, die deshalb
düster sind, weil nie ernsthaft der Versuch unternommen wird, sie zu
durchleuchten.
Als Jay versucht, mehr über Claire herauszufinden, versucht er damit nur, sie
in Besitz zu nehmen, - ohne sie schon besser zu kennen, zu verstehen,
geschweige denn zu mögen, (was vor allem in einem brutalen Beischlaf zum
Ausdruck kommt). So ist es verzeihlich, dass sie zurückweicht und vor Jays
Egozentrik wieder in ihre freudlose Ehe flieht, in der ihr eben noch jene
Ausbruchsmöglichkeiten erhalten bleiben, die Jay ihr sicher verweigern
würde. Ihrem tumben, unterwürfigen Mann ist sowieso alles recht.
Hauptsache, sie verläßt ihn nicht.
Ärgerlich bequeme Menschen also hier, sämtlich ohne Gewissen, nur durch
egoistische Triebe gesteuert, keiner mit dem Anflug einer Würde, die eher
höfliche, ernüchterte Distanz als erniedrigendes Aufreiben (buchstäblich)
erlauben würde. Unwahr ist eben, dass es keine Alternativen gibt. Die
Schilderung einer derartig heruntergekommenen Gesellschaft ist bei allem ja
gar nicht so abwegig (und in „Hundstage“ von U. Seidl auch überaus
gelungen, da durchanalysiert und ausbuchstabiert). Ich würde sie auch hier nur
zu gerne akzeptieren, hätte ich dabei nur einmal den Eindruck, dass Regisseur
Patrice Chereau eine Distanz gegenüber diesem pseudoapokaylptischen
Höllenpfuhl wahrt, dass er also, im Unterschied zu seinen Kreaturen, von der
Warte eines kritisch Anteilnehmenden aus auf diese seine Menschheit schaut,
dass er versucht, nur irgend etwas von dem Elend zu verstehen, was er zeigt.
Das Dumme ist nur, dass man den Eindruck gewinnt, der Regisseur rammele
sich genauso besinnungs- und verantwortungslos durch sein Leben wie seine
Hauptfiguren. Ich will ja keinem zu nahe treten, aber Chereau nimmt keinen
Anteil, er zeichnet vorgestanzte, psychologisch nicht stichhaltige Figuren,
kreiert unwahrscheinliche Situationen, in denen z.B. sich zwei Erwachsene in
Gegenwart eines Kindes, das das ganz normal findet, über das Ficken
unterhalten, oder zwei Erwachsene, die sich von der Warte des Kindes aus
nicht kennen können, sich heftigst streiten, was das Kind gleichgültig und als
Selbstverständlichkeit aufnimmt. Gerade an der oberflächlichen
Charakterisierung der Kinder in diesem Film kann man die empathischen
Defizite des Regisseurs erkennen.
Das alles präsentiert Chereau jedoch mit sorgfältigst verwackeltem dokumentarischen Flair - ohne „Dogma 95“ hätte es „Intimacy“ so nicht gegeben – und mit hervorragenden Schauspielern, was den Zuschauer unkritisch gegenüber den Inhalten machen dürfte und auch offenbar häufig macht. „Intimacy“ kommt in schwer modernem Duktus daher, was sicher schick wirkt, schwer realistisch, fahrig, hektisch, grob, chaotisch, u.a. auch weil zumindest in der deutschen Synchronisation der Ton so breiig ist und die schwer verkorksten Leute so nuscheln, dass man kaum was versteht - also genauso wie im richtigen Leben.... Dieser oberflächliche Realismus kann leider leicht zu falschen Schlüssen führen. Übrigens spielt ein anderer, vergleichbarer Film, der ähnlich fahrig und grob gefilmt ist, „Wonderland“ von Michael Winterbottom, wie „Intimacy“ auch in einem heutigen London. Alles, was in „Intimacy“ nicht stimmt, stimmt in „Wonderland“. „Wonderland“ ist ein wunderbares Portrait der Stadt und einiger seiner Bewohner, weil der Film klar macht, was seine Personen bewegt. Auch hier gibt es sexsüchtige, einsame oder verkorkste Gestalten, aber im Unterschied zu den Gestrauchelten aus „Intimacy“ haben sie Seele. Im Unterschied zu Chereau interessiert sich Winterbottom für seine Figuren. Es mag abgedroschen klingen, aber er hat eben jenen liebevollen Blick, den Chereau nicht ein einziges Mal entwickelt.
Für den Adoleszenten ist das Leben immer nur ungerecht und schlecht, sind
die Menschen immer nur einsam und abhängig, solange er es selbst auch ist.
Manche Leute geben sich viel Mühe, sich einen bequemen adoleszenten
Standort bis ins Greisenalter zu erhalten, indem sie ihn mit künstlerischen
Mitteln zu zementieren versuchen. Damit tun sie keinem einen Gefallen - außer
vielleicht sich selbst, aber das glaube ich eigentlich auch nicht.
Andreas Thomas, 18.5.2003
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
F/GB/D/E 2000
120 Minuten
Regie: Patrice Chéreau
Kamera: Eric Gautier
Drehbuch: Patrice Chéreau, Hanif Kureishi, Anne-Louise Trividic
Besetzung: Mark Rylance, Kerry Fox, Timothy Spall, Marianne Faithful u.a.