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Irreversibel
Niemand kann behaupten, nicht
vorgewarnt gewesen zu sein. Seit der Cannes-Premiere im letzten Jahr wurde Gaspar
Noés Film “Irreversibel” von einem lautstarken Sturm der Empörung
begleitet. Demzutrotz promotete der Regisseur seinen Film mit provozierender
Lockerheit von Park City, Utah, dem Austragungsort des Sundance Festivals, bis
nach London, und konnte dabei gar nicht oft genug betonen, welchen Spaß
ihm und seinen beiden Hauptdarstellern Vincent Cassel und Monica Bellucci die
Dreharbeiten bereitet haben. Für diejenigen, an denen die Diskussionen
um “Irreversibel” bisher vorübergegangen sind, sei kurz erklärt, dass
die schlichte Prämisse von Noes Film darin besteht, wenig zu erzählen
- dies aber in umgekehrter Reihenfolge. “Irreversibel” beginnt mit den Schlusscredits
und arbeitet sich in zwölf Szenen bis zu seinem Anfang vor. Diese Inversion
der Chronologie ist keineswegs als narrativer Gimmick gedacht, sondern ist mehr
noch als die unmittelbare Handlung der eigentliche Inhalt seines Films. “Zeit
zerstört alles” wirft Noé an mehreren Stellen pseudo-philosophisch
in den Diskurs der Bildmontage. Der narrativen Gewalt, die er seiner Dramaturgie
mit ihrer Verkehrung antut, hat er jedoch eine graphische Gewalt gegenüber
gestellt, die direkt gegen den Zuschauer gerichtet ist.
Stein des Anstoßes sind
in “Irreversibel” zwei Szenen, die in ihrem kaltblütigen Rigor selbst den
reaktionären Kodex des Exploitationfilms mit Verachtung strafen. Die erste
Szene spielt gleich zu Beginn des Films (in der natürlich Chronologie der
Bilder also am Ende) in einem schwulen S/M-Club mit dem vielsagenden Namen “Le
Rectum” und gibt den Ton der weiteren Erzählung vor. Zwei Männer,
Marcus und Pierre, stürmen wutentbrannt den Club, prügeln sich durch
die dunklen Gänge, in denen die taumelnde Kamera wie beiläufig derbe
Sexpraktiken einfängt, auf der Suche nach einem Mann namens ‘Der Bandwurm’.
Als sie ihn schließlich gefunden zu haben glauben, bricht Marcus eine
Schlägerei vom Zaun, in deren Verlauf Pierre dem Attackierten schließlich
in einem blindwütigen Gewaltrausch den Schädel mit einem Feuerlöscher
buchstäblich zu Brei prügelt. Die Kamera bleibt teilnahmsvoller Zeuge
dieses spontanen Gewaltaktes, schlägt wie zur stimmungsvollen Untermalung
dynamische Volten und rückt keine Sekunde vom Anblick des verstümmnelten
Opfers ab.
Die andere Szene ist in ihrer
Konsequenz sogar noch weitaus perfider. Die Vergewaltigung Monica Belluccis
in einer rot ausgeleuchteten Straßenunterführung, die sozusagen das
Herzstück von “Irreversibel” darstellt, ist vor allem wegen ihrer Länge
von knapp zehn Minuten von Kritikern wiederholt scharf angegriffen worden. Entsprechend
dem Diktum des Films, dass Zeit alles zerstöre, wird der Zuschauer über
einen verstörend langen Zeitraum Zeuge eines beispiellosen sexuellen Akts
der Vernichtung, dessen formale Inszenierung für das Opfer kaum Mitleid
aufzubringen vermag.
Vergewaltigungsszenen im Film
sind ein heikles Thema. Seit Ende der Achtziger Jahre ist vor allem im Zusammenhang
mit der Darstellung von Vergewaltigungen im Kino die alte Grundsatzdebatte um
die Bedingtheit einer ethischer Filmsprache immer wieder aufgenommen worden. Es liegt im Wesen
des Filmapparats, dass durch Position und Perspektive der Kamera fast automatisch
eine hierarchische Ordnung im Kadre hergestellt wird. Die Schwierigkeit einer
Darstellung besteht darin, das Gewaltverhältnis innerhalb des Bildes nicht
im Blickverhältnis “Zuschauer-Opfer” zu doppeln. In der Problematik der
Zeugenschaft liegt das ethische Dilemma einer solchen Darstellung.
Man muss Noe zuallererst vorwerfen,
dass er sich um die ethische Verantwortung eines Filmemachers nicht im Geringsten
schert. Seine Inszenierung der Vergewaltigung Monica Belluccis gehört – nicht
nur wegen ihrer Länge – zum Niederträchtigsten, was man im Kino seit
langem zu sehen bekommen hat. Auch formal ist sein Umgang mit diesem Schockmoment
mehr als bezeichnend. Während sich die Kamera fast den gesamten Film über
auf Dogma-typischem Schlingerkurs befindet, kommt mit der Niederwerfung Monica
Belluccis durch den Aggressor auch die Kamera zur Ruhe. In etwa einem Meter
Abstand vom Opfer verharrt sie auf Bodenhöhe und verfolgt in einer langen,
ungeschnittenen Einstellung bewegungslos den Vergewaltigungsakt. Die Position,
die Noé für diese Vergewaltigung wählt, ist eine klassische
Stellung aus der Hardcore-Pornografie. Die Kamera ist frontal auf die Gesichter
gerichtet; die Aktion wiederum ist ganz auf die Kamera ausgerichtet. Zerstörerischer
und menschenverachtender ist eine Kinematographie selten gewesen.
Worum es in “Irreversibel” geht,
ist schnell erzählt: Ausgehend vom Racheakt (der sich, Gipfel des Zynismus,
letztendlich gegen die falsche Person richtet) erzählt der Film über
den Auslöser der Rache seine Geschichte zurück bis zum Moment einer
unbeschwerten Zweisamkeit. Aber schon in der narrativen Dialektik der beiden
Schlüsselszenen (der Umkehrung von Ursache und Wirkung) steckt ein grundlegender
Irrtum Noés. Dramaturgisch kann seine Verkehrung schlichtweg nicht funktionieren.
Die Tragödie wird zur Tragödie, weil da vorher etwas Anderes, etwas
Positives, diesen emotionalen Raum eingenommen hat: Romantik zum Beispiel. Indem
Noe die Trägödie an den Anfang steckt, pervertiert er auch ein grundlegendes
erzählerisches Prinzip – und das ohne nachhaltigen Effekt. Zwar nimmt er
dem Racheakt durch diese Voranstellung seine karthatische Wirkung. Dafür
muss schließlich aber die Vergewaltigung in ihrer manipulativen Ausführlichkeit
als billige Rechtfertigung für eine primitive Law-and-Order-Mentalität
herhalten.
Action-Altmeister Samuel Fuller
hat einmal gesagt, man müsse mit einem Maschinengewehr von der Leinwand
schießen, um das Publikum zu treffen. Noch nie ist diese Forderung von
einem Filmemacher so katastrophal fehlinterpretiert worden.
Andreas Busche
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der taz
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Irreversibel
Frankreich 2002 - Originaltitel: Irréversible - Regie:
Gaspar Noé - Darsteller: Monica Bellucci, Vincent Cassel, Albert Dupontel,
Jo Prestia, Philippe Nahon, Stéphane Drouot, Mourad Khima, Jean-Louis
Costes - FSK: keine Jugendfreigabe, nicht feiertagsfrei - Länge: 95 min.
- Start: 11.9.2003
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