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Irreversibel
Inhalt:
Als
Alex die Party, aus Ärger über einen Streit mit ihrem drogensüchtigen
Freund Marcus verlässt, ahnt sie in keinem Moment, dass eine groteske Zufälligkeit
sie in wenigen Minuten zum Opfer eines bestialischen Verbrechens machen wird:
Durch einen U-Bahn-Schacht laufend, wird sie von einem Unbekannten minutenlang
vergewaltigt und ins Koma geprügelt. Marcus und Alex' Ex-Mann Pierre beschließen
verzweifelt, und nach Erhalt eines mysteriösen Hinweises, den Vergewaltiger
alleine aufzugreifen. Ihre manischen Untersuchungen bringen sie schließlich
in die Schwulenszene des Pariser Nachtlebens.
Kritik:
"Le
temps détruit tout", sagt ein älterer, nackter Mann auf seinem
Bett sitzend in der Anfangsszene von Irréversible
- "die Zeit zerstört alles". Er erzählt davon, wie er eine
Haftstraße absitzen musste, weil er Sex mit seiner Tochter hatte, er erwähnt,
wie sehr er es bereue, und nimmt damit indirekt Bezug zum Titel von Gaspar Noés
neuem Film: Irréversible, das, "was nicht rückgängig gemacht
werden kann". Diese Anfangssequenz ist als die Ideologie des Werkes umreißender
Prolog zu verstehen; abgekoppelt vom Rest der Handlung und augenscheinlich ihrer
ungewöhnlichen Diktion nicht unterworfen. Denn bereits die nächsten
Szenen, die zwei Männer zeigen, welche von der Polizei aus einer Schwulenbar
herausgeführt und dabei von der wütenden Menge beschimpft werden,
machen endgültig deutlich, was sich schon im eigenwilligen, offenbar mit
dem Ende beginnenden Vorspann abzeichnete: Gaspar Noé bedient sich, ähnlich
wie kürzlich Christopher Nolan in Memento,
keiner klassischen Erzählweise, sondern beginnt mit dem Ausgang seiner
Geschichte, um sich, in konsequenter Rückwärtserzählung, bis
zu ihrem eigentlichen Anfang vorzuarbeiten. Hierbei mutet es an, als wolle Noé
auf umgekehrtem Wege schockieren: Anstatt eines grausamen, kathartischen Endes
zeigt er einen Schluss (bzw. Anfang), der gerade in seiner trügenden Schönheit
die Fürchterlichkeit der Anfangs- und Mittelabschnitte des Films in ihrer
Intensität verstärken soll.
Irréversible
war der Skandalfilm der Filmfestspiele in Cannes 2002. Reihenweise sollen die
Zuschauer angewidert das Kino verlassen haben; aufgeregte Berichte gab es darüber
zu lesen, wie widerwärtig und abstoßend es sei, den Gewalt- und Vergewaltigungsszenen
dieses Films beiwohnen zu müssen. Sicherlich ist es das auch - Irréversible
ist in einigen Momenten von ekelhafter Brutalität, frei von Auswegen und
vor dargestellter Gewalt quasi berstend. Und dennoch wäre die einzige Reaktion,
die dem Film angemessen erscheint, eine der demonstrativen Unberührtheit:
Irréversible
widert an; aber er schockiert nicht, macht nicht betroffen. Denn hinter der
kühnen Fassade avantgardistischer Provokation verbirgt sich hier allzu
wenig von dem, was eine Geschichte vordringen lässt ins Innere des Zuschauers,
und sich einbrennt in seinem Gedächtnis.
Die
ersten Bilderfluten ("Einstellungen" wäre in seinem Mitklingen
von einer gewissen Statik und Bestimmtheit der Aufnahme der falsche Begriff)
nach dem Prolog zeigen, worauf die filmische Beschaffenheit von Gaspar Noés
Werkes abzielt: Eine radikale Symbiose aus Form und Gehalt aus der Sicht eines
allwissenden Erzählers. Wenn also Marcus und Pierre auf ihrer Suche nach
dem "Bandwurm" (wir können in diesen ersten Momenten des Films
nur erahnen, dass dies wohl der ihnen mitgeteilte Name des mutmaßlichen
Vergewaltigers ist - der Hinweis auf eine bald eintretende, hässliche Ironie
am Ausgang ihrer endlosen Suche ist aber schon gegeben) zu "Beginn"
des Films durch einen vor "animalischen Triebwesen" nur so tobenden
Schwulenclub stürmen, lässt Noé die Bilder seiner Kamera zum
Vermittler des Innenlebens der beiden Hauptcharaktere werden: In wilden Schwenks
wirbelt die Handkamera durch das von zuckenden Lichteffekten sporadisch erhellte
Halbdunkel des Clubs, wirkt zuweilen so, als würde sie gänzlich unkontrolliert
auf und ab bewegt werden. Die Szenen evozieren einen Zustand von Verwirrung
und Angestrengtheit, machen das Anschauen zur Tortur. Erst als die beiden Männer
den vermeintlichen Vergewaltiger von Alex ausgemacht haben, beginnt Noé
"draufzuhalten": Erbarmungslos zeigt die Kamera, wie dem Fremden mit
einem Feuerlöscher der Kopf zertrümmert wird; Schlag um Schlag, bis
nur noch eine blutige, undefinierbare Masse zurückbleibt. Immer wieder
neigt Noé dazu, seinen langen, meist ungeschnittenen Einstellungen im
rückwärtigen Erzählrhythmus genau dann Ruhe und Einhalt zu gebieten,
wenn die Gewalt ihren perversen Höhepunkt erreicht. Ganz drastisch der
Fall ist dies neben der erwähnten in einer zweiten Szene, der "berüchtigtsten"
des Films, der Fall: Die gut achtminütige Vergewaltigungssequenz im Mittelteil
von Irréversible filmt Noé in einer einzigen, langen Einstellung
aus dem durchgehend selben Kamerawinkel. Es ist eine Szene, die in ihrem Entstehen
aus dem Quasi-Nichts (Alex geht nach der Party unauffällig durch eine Unterführung,
wo sie von einem ihr gänzlich unbekannten Mann überfallen wird, bloß,
weil sie zufällig vorbeikommt, als er seine Begleiterin schlägt) einen
Eindruck vermittelt von der Omnipräsenz der Gewalt, von der Möglichkeit,
stets und ohne jedes Motiv Opfer von ihr zu werden. Und dennoch rennt Noé
hier intellektuell bloß offene Türen ein, scheint seine Zuschauer
mit einer ebensolchen Dreistigkeit belehrend behandeln zu wollen, wie dereinst
ein Michael Haneke in seinen die Gewaltdarstellung verteufelnden Gewaltfilmen.
Alex' Vergewaltigung ist im Film in ihrer kühlen, manieriert wirkenden
Ausleuchtung, der penetranten Dauer und praktisch mit dem Finger darauf zeigenden
Überdeutlichkeit des Furchtbaren signifikant für die erschreckende
Dummheit von Irréversible:
Noé glaubt, er habe es mit Menschen zu tun, die nicht wissen, was Gewalt
ist, und von ihrer ständigen Gegenwärtigkeit nicht ausgehen. Die an
ihr ebenso gedankenlos und desinteressiert vorbeigehen, wie der für Sekunden
im Hintergrund der Vergewaltigungsszene erscheinende Mann, am Ausgang der Unterführung.
Wie
wenig der Regisseur in Wahrheit zu sagen hat, wird immer deutlicher, desto weiter
er nach der zentralen Passage mit Alex' Vergewaltigung zum Anfang der Geschichte
und zum Ende des Films vordringt. Noés Film wird hier zu einer Reise
von der "Hölle" in den "Himmel": Er zeigt das Zusammenleben
der drei Menschen im alltäglichen Dasein und lässt den "unheilvollen
Himmel" seines Films schließlich in einer langen Sequenz münden,
in der Alex und Marcus nackt im Bett liegen, über ihre Beziehung sprechen
und das Leben passieren lassen. In dieser Zelebrierung der (möglichen)
Schönheit der "Zeit" sind die Gedanken an das darauf folgende
Grauen beim Zuschauer immer präsent und jene Ungebundenheit der Gefühle
des Betrachters an eine bestimmte Situation, durch die Vorwegnahme der Resultate
der Aktionen gegenüber dem "Weg" dorthin, stellen den vielleicht
einzigen gelungenen Effekt dar, den Irréversible
aus seiner Form gewinnt. Jedoch drängt sich gerade in den finalen Szenen
des Films der Gedanke daran auf, welch banale und geringe Wirkung die Geschichte
hätte, würde sie "geradeaus" erzählt werden. Die rigoros
umgekehrte Erzählstruktur mag formal diffizil sein und dem Werk einen provokant-neudenkerischen
Mantel verleihen, eine neue Dimension erschließt sie der belanglosen Aussage
und dem oberflächlichen "Überschriftendenken" des Regisseurs
aber nicht. Wenn dieser dann seiner Prämisse von der alles vernichtenden
Zeit ganz am Ende auch noch mit Inkonsistenz gegenübertritt, indem er absurd
eine Wahlmöglichkeit des Zuschauers hinsichtlich eines gänzlich anderen
Handlungsverlaufes suggeriert, wird unabstreitbar, dass dieser Kaiser absolut
keine Kleider trägt.
Janis
El-Bira
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Irreversibel
(Irréversible,
2002)
Regie:
Gaspar Noé
Premiere:
23. Mai 2002 (Cannes Film Festival, Frankreich)
Drehbuch:
Gaspar Noé
Dt.
Start: 11. September 2003
FSK:
ab 18
Land:
Frankreich
Länge:
99 min
Darsteller:
Monica
Bellucci (Alex), Vincent Cassel (Marcus), Albert Dupontel (Pierre), Philippe
Nahon (Philippe), Jo Prestia (Le Tenia), Stéphane Drouot (Stéphane),
Mourad Khima (Mourad), Jean-Louis Costes (Totgeschlagener)
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