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Irreversibel
Das
Nichts am Ende des Tunnels
Um
auf dem Markt der Aufgeregtheiten mithalten zu können, braucht mittlerweile
jedes Film-Festival seinen Skandal. Der Schocker von Cannes 2002 hieß
Irréversible,
dauerte im skandalösen Kern eine exzessive Totschlagsszene (zwischen zweiundzwanzig
und dreiundzwanzig Schläge mit dem Feuerlöscher ins Gesicht des Opfers
haben eifrige Kritiker gezählt) und neun ewig lange Vergewaltigungsminuten
und führte zu Ohnmachtsanfällen und Publikumsabwanderung in beachtlicher
Größe. Die Provokation war von Regisseur Gaspard Noé offensichtlich
gewollt. Denn der in Argentinien geborene Filmemacher („Seul contre tous“) verfügt
über ausreichend Trendgefühl und artistische Kunstfertigkeit, um seine
bösen Stellen als ästhetische Zwangsläufigkeiten aufzutakeln.
So sind beide Einstellungen praktisch ungeschnitten und eignen sich wegen ihrer
ungewöhnlichen Ästhetik vorzüglich zu einer weiteren Debatte
über Voyeurismus und Kunstfreiheit, reale und filmische Gewalt, notwendige
Wirklichkeitsnähe und sinnlose Verstörung.
Doch
Noé mag noch so sehr mit dem Ruch des Abgründigen kokettieren: Seine
moralische Fabel vom netten Ausgeh-Abend, der in der Katastrophe endet, ist
so lesebuchhaft bieder wie banal. Damit das beim Publikum nicht ganz so simpel
ankommt, greift Noé zu einem Kunstmittel und präsentiert uns den
Film im Krebsgang. So steht am Anfang von „Irreversibel“ der brutale Überfall
auf den Gast eines Pariser S/M-Homo-Clubs als Amoklauf zweier heterosexueller
Männer. „Rectum“ heißt das Lokal: ein düsterer Alptraum im Unterleib
einer grobkörnigen Breitwand-Hölle, in der die Kamera haltsuchend
herumirrt, während halbnackte Kerle die Fäuste androhen und dumpfe
Vibrationen an den Eingeweiden rütteln. Eine Ganzkörperattacke auf
den Zuschauer, technisch brillant inszeniert wie auch das weitere Dutzend langer
ungeschnittener Einstellungen, in denen sich die Vorgeschichte dieses Gewaltausbruchs
nach und nach aufrollt.
Eine
Rape-Revenge-Story, bei der Opfer und Rächer durch vermeintliche Schuld
miteinander verknüpft sind. Denn ist es nicht wegen Marcus‘ (Vincent Cassel)
unerträglichem Betragen, dass seine Freundin Alex (Monica Bellucci, Foto:
Alamode) die Party vorzeitig verlassen hat und in der Unterführung ihrem
Vergewaltiger vor das Messer lief? Der rote Tunnel, noch so ein heißkalter
Innenkörper. Die anale Echtzeit-Vergewaltigung, die uns erbarmungslos in
starr frontaler Kameraposition vorgeführt wird, ist das Herzstück
des Films und wohl auch für Abgebrühte kaum erträglich. Alles
mögliche kann man Noé vorwerfen: Dass er Gewalt verharmlosen würde,
nicht. Das würde auch keinen Sinn machen, denn es geht ihm offensichtlich
darum, die Grenzenlosigkeit menschlicher Gewaltfähigkeit in Aktion vorzuführen.
Doch während sich im Rächer-Film üblicherweise die Gegen-Aggression
zu ihrer endgültigen kathartischen Entladung akkumuliert, ist hier das
Gegenteil der Fall. Die anfängliche aggressive Energie des Films scheint
sich im Rücklauf stellvertretend auf den Ersatzopfern auf der Leinwand
abzulagern, damit das Davor umso unbefleckter daraus hervorgehen kann.
Dass
alles gut wird, will uns Hollywood immer wieder weismachen. „Die Zeit zerstört
alles“ ist Noés wahrhaftigere, doch nicht weniger schlichte Gegenthese,
die er mit dem künstlichen Pathos pseudonihilistischer Attitüde zu
philosophischer Erkenntnis aufblasen will. Doch „Irreversibel“ ist kein tollkühner
Salto rückwärts, sondern ein geradliniger Schaulauf, der von der Hysterie
delirierender Kamerataumel geradewegs zum stillen Glück häuslicher
Idylle findet. Dass dabei – in einem Film, dessen Machart uns mit machistischem
Imponiergebaren quält – am Ende wieder einmal die kreatürliche Weiblichkeit
als das Urbild der Unschuld steht, lässt sich als Symptom sehen für
das schlicht dichotomische Weltbild, das hinter dem vermeintlichen Extremkino
steckt.
Silvia
Hallensleben
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: Tagesspiegel
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Irreversibel
Frankreich
2002 - Originaltitel: Irréversible - Regie: Gaspar Noé - Darsteller:
Monica Bellucci, Vincent Cassel, Albert Dupontel, Jo Prestia, Philippe Nahon,
Stéphane Drouot, Mourad Khima, Jean-Louis Costes - FSK: keine Jugendfreigabe,
nicht feiertagsfrei - Länge: 95 min. - Start: 11.9.2003
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