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Jeder
schweigt von etwas anderem
Die DDR war kein Themenpark, sondern eine Diktatur,
die noch lange nicht aufgearbeitet ist – nicht in der Gesellschaft, nicht in
den Familien und Lebensgeschichten. Marc Bauder und Dörte Franke ist ein
wichtiger und berührender Dokumentarfilm über den Umgang mit der jüngsten
Vergangenheit gelungen.
Anne Gollin breitet in der ehemaligen Zentrale der
Staatssicherheit ein Plakat auf dem Tisch aus. „Zersetzungsmaßnahmeplan“
heißt das Papier, auf dem ihre eigene Person als Mittelpunkt verzeichnet
ist, im Kreis drumherum ihre Familie, Freunde, Bekannte – einige davon mit Decknamen
und dem Kürzel IM als Spitzel ausgewiesen. Anne Gollin, im SED-Staat mehrmals
– unter anderem wegen „asozialen Verhaltens“ oder „Herabwürdigung des Sozialismus
in der Öffentlichkeit“ – verhaftet, war 1982 im Alter von 25 Jahren inhaftiert
und nach zehn Monaten von der BRD freigekauft worden. Ihren bei der Verhaftung
einjährigen Sohn hatte man ihr weggenommen, vorübergehend sogar von
den Großeltern entführt; er wurde, wiederum Monate später, in
den feindlichen Westen „nachgeliefert“. Gollin ist eine von ungefähr 250.000
ehemaligen politischen Gefangenen der DDR, heute führt sie Besuchergruppen
durch die ehemalige Stasi-Machtzentrale, erklärt den aufwändigen Überwachungs-
und Unterdrückungsapparat.
Welche Spuren die Erfahrung von willkürlicher
Staatsgewalt und „Zersetzung“ des persönlichen Umfelds bis in die eigene
Familie hinein hinterlassen hat, zeigt der Dokumentarfilm Jeder schweigt von
etwas anderem. Während das justitielle, politische und militärische
Personal der ostdeutschen Republik nach dem Mauerfall für seine Entscheidungen
selten zur Verantwortung gezogen wurde, ist für eine ehemals Inhaftierte
wie Gollin das durch den Machtapparat verletzte Verhältnis zu ihrem Sohn
bis heute von Schuldgefühlen geprägt. Was mag sich in dem Einjährigen
abgespielt haben, als die Mutter abgeholt wurde, was, als sie nicht wie versprochen
zurückkam?
Auch das Ehepaar Storck, beide mit Anfang 20 verhaftet
und verurteilt, macht sich Gedanken, welche Auswirkungen die Beschäftigung
mit der eigenen Geschichte auf die im Westen geborenen Kinder gehabt haben mag.
„Andere Kinder sind in den Freizeitpark gefahren, und wir sind in den Osten
gefahren, Stasiakten lesen“, erzählt Tine Storck. Ihr Mann Matthias hat
von den Stasi-Kontakten des eigenen Vaters – wie er selbst ein Priester – erst
kurz vor dessen Tod erfahren und nicht mehr mit ihm darüber sprechen können.
Zu einem Geständnis hatte der Mut des Vaters bis zum Schluss nicht gereicht.
Das Nichtredenkönnen umfasst inzwischen ganze drei Generationen, denn die
eigenen Kinder fragen nicht nach, was die Eltern im Gefängnis erlebt haben
– obwohl deren erkennungsdienstliche Häftlingsfotos gerahmt im Hausflur
hängen. Für die junge Generation ist die DDR eher eine Retro-Komödie
mit Spreewaldgurken oder ein Museumsstück aus dem Schulunterricht als Teil
der eigenen Familienbiographie.
Um den jüngsten deutschen Unrechtstaat aus der
Ostalgie-Vitrine zu holen und die ewig aktuellen Mechanismen von Unterdrückung,
Angst und Verrat präsent zu machen, spricht Utz Rachowski, der vierte der
Protagonisten des Films, immer wieder vor Schulklassen über seine Erlebnisse
mit langjähriger Bespitzelung und schließlich Verhaftung wegen „staatsfeindlicher
Hetze“. Seine beiden Töchter, Dagny und Anne, wuchsen bei der Mutter auf.
Vor der Kamera denken sie nun darüber nach, warum sie ihren Vater nie auf
seine Geschichte haben ansprechen können. Das ihm Angetane erschien auch
als Wunde, an die sie nicht rühren wollten. Dass aber Sprachlosigkeit noch
verheerender sein kann, spüren sie auch.
Jeder schweigt von etwas anderem bringt nicht nur die Kinder ihren Eltern ein erstes
Stück näher, sondern verdichtet sich zu einem Gesamtbild der DDR-Verfasstheit
und allgemein einer Gesellschaft, in der ziviler Ungehorsam geahndet und Spitzelei
belohnt wurde. Wenn die Storcks einem Tonband-Interview mit Tines ehemaliger
Zellenwärterin lauschen und diese äußert, sie habe sich immer
korrekt verhalten und nur ihre Pflicht getan, dann kommen einem Aussage und
Tonfall beklemmend bekannt vor – genauso hatten sich schon die Aufseher des
vorangegangenen Systems entschuldet. Man müsse gar nicht so sehr in die
Vergangenheit schauen, sagt Utz an anderer Stelle, sondern sich in der Gegenwart
fragen, welcher der Mitmenschen sich als Handlanger einer neuen Diktatur zur
Verfügung stellen würde.
Marc Bauders und Dörte Frankes Dokumentarfilm
ist nicht nur mitreißend und wahrt dabei gleichzeitig eine respektvolle
Zurückhaltung gegenüber den drei Familien – nicht alle wollen vor
der Kamera reden –, er liefert auch dringend benötigte Gegenbilder zu Devotionalien-Shows
mit Hammer und Sichel und dem Spaß-Sozialismus eines Leander Haußmann
(Sonnenallee,
1999; NVA, 2005). 2003 warf eine unermüdliche PR-Maschine sogar die Gurke
zum Film „Good bite Lenin!“ auf den Markt; drei Jahre später präsentierte
Dominik Graf Der Rote Kakadu, von dem vor allem Dekoration und Musik im Gedächtnis
blieben. Erst Das Leben der Anderen, der kurz darauf in die Kinos kam, traf den Ton
des „Puppenstubenfaschismus“ der DDR so gut, dass manchem schon bei den Ausstattungsdetails
schlecht wurde, der Geruch des Ost-Putzmittels wieder in der Nase hing, das
Klacken des abgehörten Telefons im Ohr. Nur dass auf der Leinwand der Stasi-Hauptmann
eine innere Wandlung durchläuft, während gegenwärtig ehemalige
Offiziere immer offensiver auftreten, Führungen in Hohenschönhausen
stören und sich gänzlich reulos gegenüber ihren ehemaligen Opfern
präsentieren.
Jeder schweigt von etwas anderem ist einer dieser kleinen großen Filme, die
helfen, die Vergangenheit und unsere Bilder von ihr wieder in die Realität
zu holen.
Sonja M. Schultz
Dieser Text ist zuerst erschienen
bei:
Jeder
schweigt von etwas anderem
Deutschland
2006; 72 Minuten; Regie: Marc Bauder, Dörte Franke; Drehbuch: Marc Bauder,
Dörte Franke; Mit Anne Gollin, Utz Rachowski, Tine Storck, Matthias Storck
Kinostart:
14.9.2006
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