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Joshua
Zweifellos ist der neunjährige Joshua Cairn
ein Außenseiter, wenn auch sonst nichts sicher ist in diesem ungewöhnlichen
Psychothriller. Der Junge stammt aus wohlhabenden new yorker Verhältnissen,
mag kein Baseball, spielt Bartok wie ein Klaviervirtuose und kotzt auf den Wohnzimmerteppich,
wenn seine Familie „Jesu meine Zuversicht" anstimmt. Immer steht Joshua
auf der anderen Seite: auf der falschen Straßenseite, wenn sein Vater
es eilig hat, in die Klinik zu kommen, oder draußen an der Scheibe, hinter
der seine neugeborene Schwester versorgt wird.
Auch in die Filmbilder des Familienglücks mit
Papa, Mama, Baby passt Joshua nicht hinein. Regie-Debütant George Ratliff
setzt seine Titelfigur von Anfang an in Opposition zum Traum der harmonischen
Familie. Ein Idealbild, das ohnehin bald Risse bekommt und dann furchtbar zerbröselt.
Und wer ist schuld an alldem? Joshua wahrscheinlich.
„Joshua" fasziniert und irritiert zugleich durch
die unterschiedlichen Perspektiven, die er seinen Zuschauern ermöglicht.
Ratliff und sein Co-Autor David Gilbert ziehen so viele Ebenen ein, ihre Familiengeschichte
öffnet so viel Interpretationsspielraum, dass es nach einem gemeinsamen
Kinobesuch schwer fallen dürfte, sich auf einen Konsens zu einigen. Fest
steht, dass Joshua ein hochintelligentes, hochbegabtes, emotional freilich eher
unterkühltes Kind ist. Man sieht ihn weder lachen noch weinen; die Gefühlsausbrüche
seiner Mitmenschen äfft er nach oder quittiert ihre Emotionen mit ausdruckslosem
Unverständnis. Solche Kinder soll es geben.
Viel häufiger passiert die schmerzhafte „Entthronung"
des Einzelkinds durch ein neugeborenes Geschwister. Dass Joshuas Eltern ihre
ganze Aufmerksamkeit zunächst der kleinen Lily schenken, kommt in den besten
Familien vor. Ebenso im „üblichen" Rahmen: Ein Vater, der sich um
seine Stück um Stück aus den Fugen geratende Familie sorgt und gleichzeitig
als Hedge-Fonds-Manager gefordert ist, eine Mutter, deren Wochenbettdepression
in heftige Wahnvorstellungen auswuchert, weil ihre kleine Tochter die Nächte
durchschreit. Und schließlich noch die Großmutter, die im Haushalt
einspringt, wo sie kann, bis es zum Zerwürfnis kommt zwischen ihr und der
Schwiegertochter, weil sie Joshua mit zum Befreiungsgottesdienst bei den „Evangelikalen"
genommen hat. „Es ist ein Kampf, Joshua, halte du nur gut dein Schwert fest",
raunt Oma ihm noch zu. Dann stampft sie beleidigt aus der Wohnung.
Und Joshua? Scheint immer zwischen den Stühlen
zu sitzen, zwischen fanatischem Glauben und Atheismus, zwischen Braver-Großer-Bruder-Rolle
und Eifersucht auf Lily, zwischen Zwölftonmusik und Kinderlied. Auch das:
ein Drama des hochbegabten Kindes, das sich durchaus an wirklichen Verhältnissen
orientiert.
Aber „Joshua" ist kein Coming-of-Age-Drama und
auch kein Problemstück, in dem irgendwann eine Supernanny auftaucht, um
beherzt den Familienknoten zu lösen. Zumindest strukturell ist dies ein
Horrorfilm, und ein vorzüglich fotografierter dazu. Klaustrophobische Innenszenen
im Appartment der Cairns dominieren, Nachtszenen haben Vorrang vor Sequenzen
im gedämpften Tageslicht, die Farben verblassen Zug um Zug, Normaloptik
wird mit zunehmender Paranoia von Weitwinkelaufnahmen verdrängt, das knattrige
Rauschen des Babyphons mutiert zum Bedrohungssignal. Und: Joshuas unvermitteltes
Auftauchen, das die Eltern erschreckt, zieht sich leitmotivisch durch den Film.
Mit diabolischer Konsequenz steigern sich die tödlichen
Ereignisse: Alle Kleintiere in Joshuas Schulklasse sterben, dann verendet der
Hund, schließlich stürzt die Großmutter die Treppe des Brooklyn-Museums
herunter. Ratliff spielt mit Parallelen zu Teufelsfilmen wie „Rosemaries
Baby", „Das
Omen" oder „Der
Exorzist", etwa mit der Vermutung,
merkwürdige Geräusche vom Dachboden würden von Ratten herrühren,
was sich als falsch herausstellt. Hat sich also Satan persönlich in die
Wohnung eingeschlichen? Verkörpert Joshua den wiedergeborenen Antichristen?
Oder Lily, das Baby?
Wo William Friedkin oder Richard Donner mit Ekelszenen
und Effektgewittern schockierten, beschränkt sich „Joshua" klugerweise
auf Suggestionen, wo Roman Polanski einen spektakulär-irrealen Schlusspunkt
setzt - Satan junior in der Wiege - bleibt Ratliff bei Tatsachen und vagen Andeutungen.
Ob der Teufel wirklich existiert oder nicht, oder auch das Böse in seiner
potenzierten Form, wird der Einschätzung des Betrachters überlassen.
Überdies konkurriert die Teufels-Version bald heftig mit anderen Deutungsmustern,
wenn nämlich der Filmzuschauer am Geisteszustand der Mutter und an der
Friedfertigkeit des Vaters zu zweifeln beginnt.
Das steht und fällt auch mit der Überzeugungskraft
von Sam Rockwell und Vera Farmiga, die schlichtweg eine Idealbesetzung für
das Ehepaar am Rande des Nervenzusammenbruchs (und darüber hinaus) sind.
Celia Weston als Großmutter Cairn fügt ihren Rollenportraits bigotter
Frauen eine weitere Glanzleistung hinzu und Dallas Roberts gefällt als
lässiger, hochmusikalischer Onkel Ned, der als eine Art heimlicher Vaterfigur
dafür steht, dass Joshuas Tragik womöglich darin liegt, in die falsche
Familie hineingeboren zu sein. Da sogar die verstörende Titelfigur mit
Jacob Kogan überaus treffend besetzt werden konnte, bleibt nur noch ein
Wunsch offen, nämlich der nach einem spannenden Kinoabend.
Sicher: auf subtile Weise werden hier filmische Mittel
genutzt, um die Atmosphäre des Unheimlichen aufrecht zu erhalten. Trotzdem
ist es George Ratliff - der eben doch (noch) kein Hitchcock, Polanski oder Shyamalan
ist - nicht vergönnt, sein Experiment zum gelungenen Ende zu bringen, nämlich
Familiendrama und Horrorgenre zu verschwistern. So wie mit Joshua „etwas nicht
stimmt", so bleibt auch der Film im Stadium der kühlen Versuchsanordnung
stecken, weil einem die Figuren am Ende doch alle ziemlich gleichgültig
bleiben.
Es ist wirklich schade um „Joshua", seine Intelligenz,
seine filmische „Musikalität", seine Sorgfalt. Den Namen des Regisseurs
wird man sich trotzdem merken müssen.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Zu diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Joshua
USA
2007 - Regie: George Ratliff - Darsteller: Sam Rockwell, Vera Farmiga, Jacob
Kogan, Celia Weston, Dallas Roberts, Michael McKean, Nancy Giles, Ezra Barnes,
Linda Larkin, Jodie Markell, Alex Draper - FSK: ab 16 - Länge: 106 min.
- Start: 17.1.2008
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