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Die
Kameliendame
Das
war nicht zu erwarten gewesen: DIE KAMELIENDAME, der Ballettfilm von John Neumeier,
Ballettdirektor der hamburgischen Staatsoper, ist weitaus mehr als die Aufzeichnung
der berühmten Choreografie: es ist ein Glücksfall für das Kino.
Gleichzeitig verrät die Leinwand das Geheimnis des so erfolgreichen Tanz-Konzepts:
Die Neumeier-Choreographie ist zentral filmisch angelegt, und die intermediale
Arbeit von John Neumeier bringt die schönsten Wechselwirkungen von Tanz
und Film heraus: ein Gewinn sowohl für das Ballett wie für das Film-Publikum.
Der
Roman von Alexandre Dumas d.J. erzählt den Rise and Fall der Edelprostituierten
Marguerite Gautier (Marcia Haydee) und ihre Dauerbeziehungskrise zum Großbürgersohn
Armand Duval (Ivan Liska), dessen standesgemäße Bezugsperson der
eigene Vater ist (Francois Klaus). - Neumeier folgt dem Roman, der in Rückblenden
angelegt ist (und nicht etwa dem Plot, wie er sich in Verdis „La Traviata"
abspult). Die Räume sind auf Schleier gemalt, die durch Beleuchtungswechsel
Szenen ein- und ausblenden. Das erlaubt der Kamera, stationär zu bleiben,
und dem Zuschauer, Mittelpunkt der Geschichte zu werden: An ihn wendet sich
sozusagen die Elite des deutschen Balletts. Was ist von dem Fall zu halten,
der ihm unterbreitet wird? Wie wird er die Leistungen des Balletts beurteilen?
- Was mich betrifft, so fand ich Neumeiers Ballett-Spielfilm ergreifend und
zum Heulen schön, womit ich vor allem das Spiel der Primaballerina Marcia
Haydee meine. Endlich, jetzt, seit diesem Film, weiß ich, was ihre wahre
Größe ist: Sie ist die Heroine assoluta des Stummfilms. 27 Jahre
steht sie auf der Bühne, wenn man seit dem Start im Stuttgart John Crankos
rechnet.
Inzwischen
hat sie ein Charaktergesicht, das ihre gestische Ausdruckskraft noch steigert,
und in den Großaufnahmen des Films meint man es zu spüren, was sie
von ihren Fingerspitzen ausstrahlt.
Tanz
und Pantomime sind es, die die Geschichte erzählen, nicht das Wort. Neumeier
intensiviert im Film die Dumassche Geschichte durch Großaufnahmen: zwei
Augen, die die Leinwand füllen, oder die Bewegung einer Hand. Die Farben
sind unbunt. Jürgen Rose hat, der Uraufführung entsprechend, Weiß,
Grau und ein fahles Blau favorisiert; wir sind dem Schwarzweiß nah. Und
die Musik - es ist nicht Verdi, sondern Chopin - könnte auch, wie es wieder
Mode wird, live zum Bild eingespielt werden, wobei es fürs Kino freilich
zu teuer werden wird, das NDR-Sinfonie-Orchester zu bezahlen. Sagen wir noch,
daß Neumeier den Film sympathischerweise im Normalformat gedreht hat (Bild:
Ingo Hamer), und wir kommen zum überraschenden Ergebnis, daß Neumeier
mit diesem Film unsere karge Filmlandschaft sehr überzeugend und sehr schön
um das bereichert hat, auf das wir seit der Stummfilmzeit verzichten mußten.
Zwar scheint dies fürs historische Ambiente von Spiegel, Kerze und Ottomane,
Betrunkenen, Blinden, Adligen und Kurtisanen wie geschaffen. Damit aber jetzt
um Gottes Willen kein Irrtum passiert: Neumeiers Film blickt nicht zurück,
er ist sehr gegenwärtig, und er scheint es neu gefunden zu haben, daß
der Film allen Dialogfetischisten zum Trotz kein literarisches Medium ist.
Die
Grundstimmung, in die die Tragödie einbricht, ist eher kühl-analytisch,
Arbeitsmodell und Werkstatt-Klima. Was im Bild dekorativ werden möchte,
bleibt schließlich doch das, was seine Funktion ist: Dekoration. Sentimentalität,
gar Schmus gedeihen in diesem Klima nicht, auch lagert sich auf die Dumassche
Geschichte in dieser eher hygienischen Anlage nicht der Staub ab, den die Kameliendamen-Story,
so brisant sie seinerzeit gewesen sein mag, heute anzieht. In Neumeiers tänzerisch-filmisch-psychologisch
angelegter staubfreier Versuchsanordnung wird eine menschliche Grundsituation
zum Sprechen gebracht, ohne daß ein Wort fällt. Die Profis des Tanzens
haben vom Fernsehen (NDR und WDR) und von der Wirtschaftsfilmförderung
Hamburg genug Geld bekommen, um mit drei Kameras gleichzeitig zu drehen und
damit kongruentes Schnittmaterial zu produzieren. Im Studio Hamburg sorgte eine
Kamera, am Kran, für Totalen; die zweite Kamera folgte halbnah den Tänzerinnen,
die dritte konzentrierte sich auf Großaufnahmen. Die Montage (Marina Runne)
brachte diese Aufnahmen in eine makellose Form, die ich nur deshalb nicht professionell
nenne, weil Profis bislang den Standard eines (solchen) Ballett-Spielfilms noch
nicht zuwege gebracht haben.
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd Film 1/88
Die
Kameliendame
BRD
1987. R, B und Choreographie: John Neumeier. K:
Ingo Hamer. Sch:
Marina Runne. M: Frederic Chopin. A und Ko: Jürgen Rose. Pg: Polyphon Film-
u. Fernseh-GmbH. Gl: Hans Schoene. V FiFiGe. L: 125 Min. FSK: ab 6, ffr. FBW.-
Besonders wertvoll. St: 3.12.1987. D: Marcia Haydee (Marguerite Gautier), Ivan
Liska (Armand Duval), Francois Klaus (Monsieur Duval), Colleen Scott (Prudence
Duvernoy), Vladimir Klos (Gaston Rieux)
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