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Kehraus,
wieder
Gerd Kroske hat für "Kehraus, wieder"
ein drittes Mal die Protagonisten seines Straßenkehrer-Films "Kehraus"
aufgesucht - die Lebenden und die Toten.
Die Frau auf dem Friedhof klappt den Zollstock aus,
misst nach auf dem Gras, geht ein paar Schritte und bleibt dann stehen: Hier
muss er liegen, in einem nicht nur namenlosen, sondern als solches überhaupt
nicht erkennbaren, unsichtbaren Armengrab. Es ist im Tod wie im Leben. Monatelang
lag Stefan Seide tot in seiner Wohnung, niemand hat ihn vermisst, kein Verwandter,
kein Freund war da, ihn zu beerdigen. Es gab kein Geld, keine Dokumente, es
gibt niemanden, der etwas über diese letzten Jahren weiß. Das Leben
des Stefan Seide: eine beinahe unbezeugte Existenz.
Beinahe nur, denn: Im Jahr 1989 drehte der Dokumentarfilmer
Gerd Kroske "Kehraus", einen dreißigminütigen Film über
drei Straßenkehrer in Leipzig - Gabi, Henry und Stefan. Eine Langzeitbeobachtung
war ursprünglich nicht geplant, aber im Jahr 1996 kehrte er zurück
für "Kehrein, Kehraus", um nachzusehen, wie es seinen Protagonisten
von damals ergangen war. Nicht gut, ihre Jobs hatten die meisten von ihnen verloren.
Zehn Jahre später hat Kroske erneut in Leipzig gedreht, suchte die Straßenkehrer
von einst und musste erfahren, dass einer von ihnen nicht mehr am Leben war:
Stefan Seide, auch seine damalige Freundin Marlen ist tot. "Kehraus, wieder"
belässt es nun nicht dabei, sondern rekonstruiert die letzten Jahre der
beiden, sucht und findet die wenigen Spuren, die bleiben in den Akten von Ämtern
und den Erinnerungen von Menschen, die Marlen und Stefan begegnet sind. Zugleich
dokumentiert er den Alltag von Henry und Gabi. "Kehraus, wieder" erzählt,
als wären sie gleichberechtigt, von den Lebenden und den Toten.
Die Lebenden: Gaby, die von Hartz IV lebt und zwei
Kinder hat; mit der Tochter gab es jahrelang keinen Kontakt, sie wurde, wie
sie nun dem Dokumentarfilmer erzählt, jahrelang vom damaligen Partner der
Mutter missbraucht. Henry, der, vor allem, weil sich offline wenig tut, ständig
online unterwegs ist, chattet und spielt, dreiundfünfzig Stunden am Stück,
erzählt er, ist sein Rekord.
Die Toten: Marlen, an die sich der Leiter einer Entgiftungsklinik
nicht mehr erinnern kann, an die sich die aber, die sie kannten, erinnern als
einen immer positiven Menschen. Und eben Stefan, der einfach verschwunden ist
noch aus den paar Leben, die er überhaupt noch tangierte. In der Pathologie
gibt es ein Foto, identifizierbar ist Stefan am Tattoo. Eine dürre Akte
noch zum Todesfall, aus vergilbten Registern gezogen, und eben das Armengrab.
"Kehraus, wieder" ist ein nüchterner
Film, der seine Empathie ganz ins Suchen und Zeigen und Wissenwollen legt. Gerd
Kroske urteilt nicht explizit, weder über die Menschen, die ihre Nischen
am untersten Ende der Gegenwartsgesellschaft gefunden haben, noch über
eine Gesellschaft, die an die - mitunter auch aus eigener Schuld - Deklassierten
das Hartz-IV-Existenzminimum rüberreicht, ohne ihnen weitere Teilhabechancen
zu eröffnen. Aber gerade indem er dem Zuschauer nicht vorschreibt, was
er über das, was zu sehen ist, denken soll, lässt er Gabi und Henry
und Marlen und Stefan, den Lebenden und den Toten, ihre Würde.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: www.perlentaucher.de
Kehraus,
wieder
Deutschland
2006 - Regie: Gerd Kroske - Darsteller: (Mitwirkende) Gabriele Koch, Marion
Richter, Henry Radny, Marlen Dietze, Stefan Seide, Caterina Koch, Ingo Koch,
Peggy Ranfeld, Dieter Tinibel, Annelies Herbert, Werner Hartkopf - Länge:
99 min. - Start: 17.4.2008
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