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Kes
Beim Gedanken an das mittelenglische Industrierevier
treibt es einem die immer gleichen klischeehaft anmutenden Bilder vor das geistige
Auge: von verdreckten Straßen, gedrängt stehenden Backsteinhäusern
und deren von Perspektivlosigkeit gelähmten Inhabitanten, die sich nahtlos
in den tristen Gesamteindruck einfügen. In einem schäbigen Viertel
der Industriestadt Barnsley lebt der 14jährige Billy Casper, der, desillusioniert
ob seiner vorgefrästen Zukunft im Heer der in Wohnbaracken kasernierten
Lohnsklaven, ausschließlich für den Moment lebt und deshalb von seiner
Umwelt als Sonderling stigmatisiert wird.
Dabei haben seine Mitmenschen mehr mit ihm gemein,
als sie sich selbst eingestehen möchten: Die Realitätsflucht. Das
Highlight des öffentlichen Lebens im Viertel ist die samstägliche
Tanzveranstaltung, zugleich der Tiefpunkt des kulturellen Pauperismus. Billies
Mutter, eine ewig zu kurz Gekommene, die davon überzeugt ist, dass es das
nicht gewesen sein kann, hofft bei diesem regelmäßigen Ausbruch aus
der entmenschlichenden Routine den Partner fürs Leben und damit ein höheres
Gut zu finden. Eine Utopie, weil die vorzufindende Gesellschaft das gleiche
Kreuz trägt und in den gleichen Träumen schwelgt, die wohl mehr selbstbetrügerisches
Lebenselixier, denn konkret zu verwirklichendes Ziel sind. Denn in einem ist
sich das Kollektiv einig: dieser Tristesse wird man so schnell nicht entkommen.
Bewusst oder unbewusst zelebriert hier jeder seinen
eigenen Eskapismus. Da ist z.B. der tyrannische Schuldirektor Mr. Gryce (allein
der Name klingt schon abschreckend) mit erfolgreich antrainierter stoisch-grimmiger
Mimik, der – obwohl er die Sinnlosigkeit eingesteht - selbst in laissez faire
propagierenden Zeiten die körperliche Züchtigung als erzieherisches
Mittel praktiziert und den Tagen nachweint, in denen die Gestraften demütig
Einsicht zeigten und später drüber lachen konnten. Oder aber Billys
Sportlehrer, ein unbeherrschter Sadist, der sich im Fußballspiel als Legende
Bobby Charlton (drängte sich als Vorlage zur Selbstaufwertung auf, da England
damals amtierender Weltmeister war) sicherlich wohler fühlt, denn als an
Vorschriften geketteter Pädagoge.
In einer ihrem natürlichen Urzustand entfremdeten
Gesellschaft, die sich in ihrem Charakter der Industriemaschinerie und dem Kapitalismus
unterworfen hat, kommt es darauf an, ob ein Mensch funktioniert oder nicht.
Bei Billy ist letzteres der Fall, denn er wählt die radikalste, unangepassteste
und offensivste Form der Flucht, die ihn zum Meta-Außenseiter, also zum
Außenseiter unter solchen macht. Billy hält sich einen Falken, Kes,
den er abrichtet und dessen Vertrauen er gewinnt. Die Dyade aus Mensch und Tier
im harmonischen Einklang mit der Natur lässt den Jungen seine alltäglichen
Probleme vergessen, die darin bestehen, dass ihm aufgrund schlechter Leistungen
das Ende seiner Schulzeit droht, das er zwar begrüßt, das aber auch
die Frage nach einer Arbeit zu Tage fördert. Billy weiß nicht, was
er will, er kann nur energisch benennen, was nicht: das Bergwerk.
Existenz durch Subsistenz - Billy hat schnell indoktriniert,
dass sich vorrangig jeder (mit Ausnahmen) um sich selbst kümmert und leitet
daraus ab, es ihnen gleich zu tun. Um nicht in der Zwangsaskese zu vergammeln,
stiehlt Billy und nimmt sich, was er braucht. Ein „Laster“, das ihm zum Verhängnis
wird, als er das Wettgeld seines verhassten Bruders unterschlägt, mit dem
er eigentlich nur das Bett teilt, und darauf spekuliert, dass dieser – wie gewohnt
- nicht gewinnt. Wie so vieles läuft auch dieser Plan schief - mit Konsequenzen
für Kes. Billy hingegen gewinnt, und zwar die niederschmetternde Erkenntnis,
dass ihm der Lebenssinn von denen entzogen wurde, die ihn auf seiner Flucht
stellten und brutal zu sich zurückholten. Es wird ihm nicht vergönnt,
glücklich zu sein.
Regisseur Ken Loach verwischt in "Kes"
die klassische Dichotomie von Gut und Böse. Wie bereits geschildert, verdient
Billy keinen Heiligenschein, genauso wenig ist sein Umfeld homogen schlecht.
Einer hingegen ist ein schillerndes Fanal im emotionalen Morast. Es ist Billys
Englischlehrer Mr. Farthing, der ohne Vorurteile, Vorbehalte oder Hintergedanken
ein Ohr für ihn hat und sich aus persönlicher Anteilnahme und nicht
um sich an seiner Not zu ergötzen mit ihm beschäftigt und ernsthaftes
Interesse an Billy zeigt.
Die Figuren des Filmes sind keine platten Zitate
von 08/15-Charakteren aus dem abgegriffenen Sozialdrama-Handbuch. Insbesondere
der Protagonist Billy Casper, gespielt von David Bradley, für den der Film
aufgrund seiner eigenen Geschichte fast schon therapeutischen Wert hatte, ist
ein komplex verästeltes Konstrukt, in das allerhand belebende Details ziseliert
wurden. Nicht nur, wenn man berücksichtigt, dass das Gros der Darsteller
filmtechnisch debütierte (für den Laien Bob Bowes war es sogar eine
einmalige Erfahrung), muss man zu der Einschätzung kommen, dass hier ganz
große Kunst bezeugt werden kann.
"Kes" zeichnet das Sittengemälde einer
Gesellschaft auf der Flucht vor sich selbst, das nicht nur als Milieu- sondern
auch als Zeitgeiststudie klappt. Loach wertet nicht, sondern lässt seine
dem britischen Sozialrealismus verpflichteten dokumentarischen Beschreibungen
unbequem im Raum stehen, ohne auf den Zuschauer durch suggestive Hilfsmittel
meinungsbildend einzuwirken, mit denen er seine eigentliche Intention vielleicht
schneller erreicht, zugleich aber den Stil des Filmes verbogen hätte. Er
entschuldigt die Menschen nicht, er verteufelt sie nicht, er sieht sie als Opfer
ihrer Zeit.
Ebenso wenig wie seine Figuren
kann man auch "Kes" kaum auf die übliche Weise objektiv als gut
oder schlecht skalieren. Es kommt hier nämlich ganz entscheidend darauf
an, wie der Zuschauer mit "Kes" korrespondiert und ob er, um den
universellen Wert des Filmes zu genießen, die zeitlichen und örtlichen
Umstände ausblenden kann und will. Loach versucht zu berühren. Inwieweit
ihm das gelingt, liegt allein beim Betrachter. Mich als deutschen Mittachtziger-Jahrgang
konnte er jedenfalls beeindrucken.
Erik Pfeiffer
Kes
KES
GB
- 1969 – 115 min. - Erstaufführung: 13.9.1970 (USA)/5.3.1972 ARD/14.12.1974
DFF1
Regie:
Ken Loach
Buch:
Tony Garnett
Vorlage:
nach dem Roman „A Kestrel For A Knave“ von Barry Hines
Kamera:
Chris Menges
Musik:
John Cameron
Schnitt:
Roy Watts
Darsteller:
David Bradley (Billy Casper), Freddie Fletcher (Jud Casper), Lynne Perrie (Mrs.
Casper), Colin Welland (Mr. Farthing), Brian Glover (Mr. Sudgen), Bob Bowes
(Mr. Gryce), Bernard Atha (Berufsberater)
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