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Khadak
„Khadak“ beginnt rätselhaft mit Tränen
und einem Abzählreim, der die Erzählung später strukturieren
hilft. Es folgen Bilder, wie man sie im Kino nach „Die
Geschichte vom weinenden Kamel“ (fd
36 306) oder „Tuyas
Hochzeit“ (fd 38 277) gemeinhin mit
dem auf archaischen Traditionen fußenden Nomadenleben in der Mongolei
verbindet. Bagi, ein Hirtenjunge an der Grenze zum Erwachsensein, verfügt
über die besondere Gabe, Lebewesen über größere Distanzen
wahrzunehmen. Als er während eines Schneesturms ein verloren gegangenes
Schaf sucht, erleidet er einen epileptischen Anfall und erfährt, dass er
dazu bestimmt sei, ein Schamane zu werden. Doch Bagi will sich nicht in sein
Schicksal fügen, auch dann nicht, als sein Großvater raunt, dass
es gefährlich sei, sich seiner Bestimmung zu verweigern.
Die Filmemacher Peter Brosens und Jessica Woodworth
lassen sich ausgesprochen viel Zeit, um ihre Geschichte zu entwickeln. Sie montieren
überwältigende Bilderreihen, die doch voller hermetischer Codes sind
und dem Zuschauer klar machen, dass er gut daran tut, sich dem Fluss der Erzählung
anzuvertrauen. Offensichtlich hat ein Wandel in der Mongolei begonnen, der es
erlaubt, sich von den Zwängen der Tradition zu emanzipieren. Doch was im
Falle Bagis noch fast unmotiviert erscheint, erhält ungleich mehr ethische
Wucht, als eines Tages ein Militärkonvoi vor den Jurten aufkreuzt. Die
Soldaten in weißen Schutzanzügen sprechen von einer gefährlichen
Seuche und siedeln die Nomaden zwangsweise in ein menschenfeindliches Bergbauzentrum
um, wo wenige Arbeiter mit riesigen Maschinen hantieren und einzelne Wohnblocks
verloren in der Gegend stehen. Einige Nomaden arrangieren sich mit den neuen
Lebensumständen, andere vereinsamen oder begehen Selbstmord. Bagi, der
mittlerweile Postbote geworden ist, rettet ein geheimnisvolles Mädchen
und versucht, mit ihm zu fliehen. Doch die Flüchtenden werden entdeckt
und zur Zwangsarbeit im Straßenbau verurteilt, wo sie auf eine kunterbunte
Schar anderer Delinquenten treffen. Als Bagi einen neuerlichen epileptischen
Zusammenbruch erleidet, wird er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und
mit Medikamenten behandelt. Doch die Gabe des Schamanismus erweist sich als
stärker. Nun „weiß“ Bagi, dass die von der Regierung angeblich getöteten
Tiere noch „irgendwo da draußen“ leben. Als Bagi gehört wird, kommt
es zum Aufstand.
Über weite Strecken gelingt es den Filmemachern,
bei ihrem Spielfilmdebüt eine faszinierende Spannung zu etablieren, die
fast vollständig über Bilder funktioniert. Erst im letzten Drittel,
als der Film plötzlich in eine unerquickliche Mischung aus Zivilisationskritik,
surrealem Schamanen-Trip, Liebesgeschichte und Revolte umschlägt, die wahllos
fremde Bilderwelten von Angelopoulos bis Tarkowskij und Askoldov ausschlachtet,
bekommt die Bildgewalt plötzlich einen Zug von prätentiösem Kunsthandwerk,
das sich einer fremden Kultur bemächtigt, um eine pseudorevolutionäre
Geschichte zu erzählen. Vieles, was vorher noch in seiner schroffen Fremdheit
zu fesseln wusste, enthüllt sich als reaktionärer Kitsch, der mit
den Mitteln eines abgehalfterten Regietheaters visuelle Effekte aus der Mottenkiste
der Weltrevolution produziert, die in ihrer Kunstfertigkeit schlicht ärgerlich
sind. Hier kippt das, was „Khadak“ scheinbar kritisiert (oder zumindest diagnostiziert),
der Einbruch der Moderne in eine traditionelle Welt, ausgerechnet im Moment
des Widerstands in eine Abfolge pathetischer Theatergesten und -choreografien
um, wodurch der Film keinen Ort mehr hat, von dem aus er „sinnvoll“ erzählt
werden könnte. Was bleibt, ist eine Mischung aus Blut- und Boden-Mystik
und „radical chic“ in den Kostümen der sozialistischen Avantgarde der 1920er-Jahre,
die durch eine aufgesetzte Hermetik auf ihren Arthouse-Status pocht.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Khadak
Deutschland / Belgien / Niederlande 2006 - Regie: Peter Brosens, Jessica Woodworth - Darsteller: Batzul Khayankhyarvaa, Tsetsegee Byamba, Damchaa Banzar, Tserendarizav Dashnyam - FSK: ab 12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 104 min. - Start: 17.4.2008
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