zur
startseite
zum
archiv
Kika
Almodóvar
zeigt uns gleich zu Beginn, worum es gehen wird: Um das Sehen, um die Liebe,
um die Gewalt. Wir sehen durch eine Maske in Form eines Schlüsselloches
auf eine sich entkleidende Frau. Dann hören wir das Klicken eines Fotoapparates.
Eine hellrote Rose füllt das Bild; die Kamera fährt hinunter über
ein Pin-Up-Foto des Modells auf einen Wasserhahn; wir sehen den Fotografen selbst,
wie er Nahaufnahmen von den Brüsten der Frau macht und ihr im senkrecht
gestellten Bett den Ausdruck der Erregung abverlangt. Während sich seine
Erregung von „Schuß" zu „Schuß" steigert, reagiert sie
eher gelangweilt, professionell immerhin. Nun kommt der technische Stab, der
hinter den Aufnahmen steht, in den Kamerablick, die Geschäftigkeit bei
der Produktion technisch reproduzierbarer Bilder. Wir haben das Thema des Films
erfaßt, eine seiner Hauptfiguren, den Fotografen Ramon, kennengelernt,
und nebenbei ging es vielleicht auch um das Kino selbst und die Aufhebung der
Leidenschaften in ihm. Immerhin stammt KIKA von einem Regisseur, der von sich
sagt, sein Leben sei nur ein Vorwand, um Filme zu machen.
Ramon
fährt nach Hause; am Eingangstor hört er einen Schuß, er ahnt,
was geschehen ist: „Mama", ruft er und findet seine Mutter im Badezimmer,
sie hat sich erschossen. Sein Stiefvater, der amerikanische Autor Nicolas Pierce,
hat sich den Arm verletzt, als er die Mutter am Selbstmord hindern wollte. Im
Abschiedsbrief schreibt sie, Ramon werde nicht verstehen können, warum
sie gehe. Dazu müsse er genauso verzweifelt sein wie sie.
Drei
Jahre später. Kika, eine Kosmetikerin, erklärt einer Schar begeisterter
Zuhörerinnen, wie sich eine Frau durch die kosmetische Veränderung
ihrer Augen interessant machen kann. Kikas Künste werden für die Verschönerung
eines Leichnams benötigt, Nicolas hat sie rufen lassen. Sie erwartet ein
Abenteuer mit dem bekannten amerikanischen Autor, aber stattdessen soll sie
Ramons Leiche herrichten, der an Herzversagen gestorben ist. Doch unter ihren
kosmetischen Bemühungen und einem heftigen Redefluß erwacht der Tote
wieder.
Kika
und Ramon werden ein Paar. Nach Jahren der Abwesenheit kommt der Schwiegervater
Nicolas' wieder nach Madrid und quartiert sich bei ihnen ein. Kika schläft
ab und zu mit ihm und befürchtet, Ramon habe etwas davon bemerkt, als er
sie eines Morgens bittet, ihn zu heiraten.
Auftritt
der vierten Hauptperson: Andrea, das „Narbengesicht", führt in einem
leeren Theater in reichlich bizarrer Aufmachung durch ein TV-Programm mit dem
Titel „Das Schlimmste des Tages". Andrea zeigt Filme von Mord und Verbrechen,
die vor den Kameras von Voyeuren, Amateuren und Profis geschehen sind, lädt
Opfer und Täter in ihre Sendungen ein und ist selbst mit einer auf dem
Helm montierten Kamera und mit dem Motorrad unterwegs, um das Schlechteste dieser
Welt einzufangen: Reality-TV. Die Polizei gehört ebenso zu ihren Zulieferern
wie mit hohen Prämien geköderte „normale" Menschen. Früher
war Andrea Psychologin; auf Wunsch der Mutter gehört auch Ramon zu ihren
Patienten, nun ist er Objekt ihrer Verfolgung. Ihre Veränderung von der
heilenden zur zerstörenden Kraft ist gewiß nicht ohne diese Zurückweisung
zu denken.
Zu
den begierigen Zuschauerinnen von Andreas Sendung gehört Juanita, Kikas
und Ramons Haushälterin. Sie ist unglücklich in ihre Senora verliebt.
Und sie hat ein Monstrum von Bruder, Pablo, einen Boxer und Pornodarsteller,
der einen Freigang nutzt, um dem Gefängnis zu entfliehen. Er besucht Juanita,
die ihn so schnell wie möglich wieder loswerden will. Sie schlägt
daher einen vorgetäuschten Raubüberfall vor, läßt sich
von ihm fesseln und bewußtlos schlagen, aber bevor er sich mit den gestohlenen
Fotoapparaten aus dem Staub machen kann, entdeckt er die schlafende Kika. Pablo
vergewaltigt sie, es will kein Ende nehmen. Jemand nimmt mit einer Kamera mit
Teleobjektiv die Szene von der gegenüberliegenden Straßenseite auf
und ruft mit verstellter Stimme bei der Polizei an. Zwei Polizisten, die sich
offensichtlich an amerikanischen TVSerien orientieren, befreien schließlich
Juanita und Kika. Und schon ist auch Andrea mit ihrer Kamera da und will ein
Interview von Kika haben, das sie jedoch verweigert. Als am Abend aber die Sendung
„Das Schlimmste des Tages" mit der Filmaufnahme ihrer Vergewaltigung gezeigt
wird, bricht Kika zusammen.
Das
Karussell von Tat, Beobachtung, Verstellung und Entlarvung dreht sich nun immer
schneller: der Voyeur war niemand anderes als Ramon selbst. Andrea hat das Manuskript
von Nicolas' neuestem Roman gelesen und erkennt, wie bald auch Ramon, daß
Nicolas ein Serienmörder ist, der auch Ramons Mutter tötete. Im letzten
Duell erschießen sich Andrea und Nicolas gegenseitig. Ramon scheint wieder
seinem Herzleiden zu erliegen, und noch einmal gelingt es Kika, diesmal mit
Elektroschocks, ihn ins Leben zurückzuholen. Doch während man ihn
ins Krankenhaus fährt, nimmt Kika nur allzugern die Einladung eines jungen
Mannes zu einem Hochzeitsfest auf dem Lande an.
Das
ist der Plot, und er erklärt, wie stets bei Almodóvar, nur wenig
von dem Film, der in seinen grafischen Exaltationen, seinem Pop-Hyperrealismus,
seinem beständigen Wechsel zwischen Groteske und Tragödie, zwischen
Momenten vollständiger Lüge und vollständiger Wahrheit, seiner
Vermischung der Realitätsebenen und dem steten Wechsel der Perspektiven,
der Gebrochenheit des Blicks in den endlosen Kreisen des Beobachtens und Beobachtetwerdens,
der Verkleidung und der Nackheit, deutlich macht, was „postmodernes Kino"
ist. Seine Kunst besteht darin, in einer reinen Kino-Welt, die man nie als Abbildung
der Wirklichkeit mißverstehen kann, ganz und gar echte, heftige Gefühle
zu erzeugen. Almodóvars Figuren scheinen zu wissen, wie sehr sie Erfindungen
sind, wie sehr sie nur in den Blicken der anderen existieren, in den Strukturen
des Mythos (den Konventionen des Melodrams zum Beispiel), so daß sie sich
ständig nach Verwandlungen sehnen in ihren Erscheinungen, die so „schrill"
wirken, weil sie die zwei widersprüchlichsten Impulse aufs heftigste zusammenbringen:
sich zu offenbaren und sich zu verbergen. Nacktheit und Panzer sind nur besonders
deutlich vereint in der Erscheinung von Victoria Abrils' futuristischer Reporterin
des Bösen, auf die eine oder andere Weise kennzeichnen sie alle Personen
Almodóvars.
Der
Film durchläuft Stadien der Beziehungskomödie, der schrägen Sexualgroteske,
des Film noir, des Eifersuchtsdramas und endet ganz unerwartet heiter, wenn
er plötzlich von etwas handelt, das er die ganze Zeit über so strikt
negierte, von der persönlichen Freiheit. Kika entkommt den Toten und den
Blicken, auch den unsrigen. Und das macht aus ihrem Film ein bemerkenswert optimistisches
Werk, und weil es ihr Film ist, sind Ramon, Nicolas, Juanita, der Triebtäter
Pablo, und all die anderen vielleicht nichts als Gestalten aus einem schlechten
Traum. Sie stellen, wie Almodóvar sagt, Kikas Optimismus auf die Probe;
freilich könnte man ebenso gut sagen, das voyeuristische Netz des aktuellen
Lebens und die Gefangenschaft des Individuums in seinen medial verstärkten
Obsessionen und Melancholien wird durch Kikas Optimismus (welcher das mythische
Opfer keineswegs ausschließt) auf die Probe gestellt.
Es
ist Kikas Film, aber er ist auch von jeder anderen Person aus zu erkennen und
wird jedesmal ein anderer. Der Punkt, an dem wir durch den Spiegel auf die jeweils
andere Seite gelangen und der den Film in zwei ganz buchstäblich einander
entgegengesetzte Hälften teilt - wie der Schnitt durch den Apfel, den die
böse Hexe Schneewittchen reicht - ist die grausame und groteske Szene von
Kikas Vergewaltigung, die nicht nur Werk des tumben Täters ist, sondern
an der alle Personen des Films, männlich und weiblich, direkt oder indirekt
beteiligt sind. Sie birgt in sich die größte moralische Provokation,
weil sie nicht eines der herkömmlichen Muster von Identifikation und Distanzierung
zuläßt, nicht einmal den Schock als Therapieform gegen das Unerträgliche.
Von dieser Szene aus, die die Bösartigkeit der Beziehungen in einem kindisch-barbarischen
Akt bewußtloser Gewalt zusammenfaßt, wird spürbar, wie vergiftet
das System ist. Die Vergewaltigung macht aus den heimlichen Obsessionen mörderische
Gewißheiten, Fakten, wie zum Beispiel den Tod, aber deswegen noch lange
keine Wahrheiten.
Längst ist Almodóvar kein Filmemacher mehr, dessen cineastischer Ehrgeiz auf die Provokation ausgerichtet ist. Die krasse Oberfläche, die Ästhetik der „Melange" (Almodóvar) und die trashige Prächtigkeit seiner Ausstattung sind zu einer Sprache geworden, die ganz und gar angemessen von der Verzweiflung in der nachmodernen Welt berichtet. Andreas manische Suche nach dem immer noch Schrecklicheren spiegelt den quotengeilen Medienmenschen ebenso wie sie weit über ihn hinausgeht. Sie, die einstige Psychologin, die seelische Wunden zu heilen angetreten war, reißt sie nun erbarmungslos und öffentlich auf. Wenn Kika einmal zu Ramon sagt, man könne doch über Sarajevo sprechen (wie von einem Schrecken, der noch außerhalb von einem selber läge) und keine Antwort erhält, dann entsteht dadurch mehr als nur ein grausamer, kurzer Widerschein der ersten in der zweiten Wirklichkeit. Die Szene verlängert auch das Problem des Films, die Rituale des Schweigens und Verbergens, von den „privaten" Beziehungen in die Geschichte. Darin ist Almodóvar einem anderen spanischen Künstler sehr nahe, Federico Garcia Lorca. Kikas Kampf gegen das Geflecht von Voyeurismus und Gewalt ist auf einer anderen Ebene auch der Kampf des Ausgesprochenen gegen das Verschweigen. In KIKA sagen die Menschen so etwas wie die Wahrheit nur gegenüber Toten oder sterbend.
Georg
Seeßlen
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: epd film
3/94
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
KIKA
KIKA
Spanien
1993. R und B: Pedro Almodóvar. P:
Agustin Almodóvar. K:
Alfredo Mayo. Sch: Jose Salcedo. A:
Javier Fernandez, Alain Bainee. Pg:
EI DeseoICiby 2000. V:
Tobis. L: 100 Min. St: 17.3.1994. D:
Veronica Forque (Kika), Peter Coyote (Nicolas Pierce), Victoria Abril (Andrea
Caracortada), Alex Casanovas (Ramon), Rossy De Palma (Zofe), Santiago Lajusiticia
(Pablo).
zur
startseite
zum
archiv