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Die
Kinder sind tot
Ein
Leben lang
Eine
Frau kämpft sich durch die Menge, das Gesicht unter einem Tuch verborgen.
Es ist die des Mordes an zwei ihrer vier Kinder angeklagte Daniela Jesse, die
unter Kamerablitzen wie ein Tier zur Anklagebank getrieben wird. Der qualvolle
Dursttod der kleinen Jungen in Frankfurt/Oder im Sommer 1999 entflammte damals
den Volkszorn. Dabei zeigten sich gerade diejenigen entrüstet, die selber
nicht zimperlich mit ihren Kindern umgehen. In der Disco hat sich diese Rabenmutter
amüsiert!
Die
Berliner Dokumentarfilmerin Alrun Goette interessiert sich nicht zum ersten
Mal für Weiblichkeit und Gewalt: Schon „Ohne Bewährung“ (1999) porträtierte
eine Mörderin, der Goette in ausgiebigen Gefängnisbesuchen näher
kam. Auch „Die Kinder sind tot“ versucht, sich seiner Protagonistin direkt zu
nähern. Doch vorher besucht die Regisseurin jene Plattensiedlung bei Frankfurt,
wo Daniela ihre beiden Söhne zwei Wochen alleine in einer Wohnung zurückließ,
während sie ihrem damaligen Geliebten den Haushalt machte. Die Situation
der Kinder, sagt sie später, habe sie verdrängt.
Daniela
stellt sich als überforderte Frau dar, seit sie als Teenager den desolaten
Familienverhältnissen entfloh. Sie fühlt sich so hilflos, dass sie
sich von vier Männer schwängern lässt, damit vielleicht einer
bei ihr bleibt. So überfordert, dass ihr die Kontrolle über das Leben
entgleitet und sie Hilfe nicht mehr annehmen kann. Doch auch andere haben offensichtlich
versagt: die Nachbarn, die die Schreie der Kinder überhört haben und
jetzt Daniela anklagen. Die Großmutter, die die Kinder regelmäßig
versorgte, doch diesmal zwei Wochen lang die Augen verschloss.
So
verschiebt sich in Goettes Film das Blickfeld von der 23-jährigen Mörderin
auf die Menschen, unter denen sie aufgewachsen ist. Auf ihre Mutter, die immer
noch überzeugt ist, der Tochter das Beste gegeben zu haben und damit Fernseher
und CD-Spieler meint. Die Männer, die Danielas Leben streiften und sich
dem Gespräch mit der Regisseurin verweigern. Und auf die so genannten anständigen
Menschen, die sich am Zuschauereingang des Gerichtssaals drängen.
Eine
unheimliche Kälte geht von ihren Gesichtern aus, ein Klima aus Dumpfheit
und Verdrängung. Mehr als über die Mörderin Daniela Jesse ist
„Die Kinder sind tot“ ein Film über diesen Hass, der sich mit sozialer
Perspektivlosigkeit begründen, aber nicht rechtfertigen lässt. Daniela
Jesse wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Vielleicht ist die Strafe für
sie die erste Chance, zu sich selbst zu entkommen.
Silvia
Hallensleben
Diese
Kritik ist zuerst erschienen im:
Die
Kinder sind tot,
Dokumentarfilm, Deutschland 2003, Buch und Regie: Aelrun Goette, mit Daniela
Jesse, Rosemarie Jesse, Cornelia Scheplizu, Thorsten Mausolf, Jörg Semmler,
Johannes Simang, Kinostart: 11. März 2004 bei Ventura Film
Auf DVD erhältlich bei: AbsolutMedien
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