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Kinder
unserer Zeit
In drei, auch stilistisch unterschiedlichen Episoden
erzählt dieser Film von Verbrechen, die Jugendliche in Frankreich, Italien
und England begehen.
Französische Episode: Dreimal
eine häusliche Szene am Wochenende nach dem Mittagessen. Ein wie eine frühe
James-Dean-Kopie aussehender Junge (Jean-Pierre Mocky), Einzelkind, pumpt Geld
von seinen gleichgültigen, beschäftigten Eltern; ein selbstbewußt
hübsches Mädchen (Etchika Choureau) setzt - geschickt die betulichen
Eltern gegeneinander ausspielend - die Erlaubnis zum Ausgehen durch; ein Brüderpaar
(Henri Poirier, André Jacques) versucht dasselbe bei der ewig besorgten
Mama und dem, sich in militaristischen Parolen ergehenden Papa. Der eine steckt
Vaters Pistole ein. Die Gruppe trifft sich mit einer weiteren Freundin (Annie
Noel) und deren kleiner Schwester. Man fährt im Bus hinaus aufs Land, macht
Picknick im Wald, freut sich kindlich über landende Segelflugzeuge. Es
kommt zu Eifersuchtsszenen, weil die hübsche Zisi Pierre den Jungen mit Geld und einem
überbordenden Aufschneider-Talent (es geht um einen sagenhaften Dollarschatz
und die Flucht nach Kanada) für sich erobern will, weil Geld zur Liebe
gehöre. André, einer der Brüder, fühlt sich betrogen.
Er begleitet den Rivalen in ein einsames Trümmerhaus und schießt
auf ihn, vorgeblich um den Schatz zu rauben. Kopflos flieht die Gruppe, das
Opfer wird
gefunden, die Polizei meldet sich bei den Eltern, und der Bruder verrät
den Täter. In einer langen Schlußeinstellung bringt der Vater den
Sohn persönlich durch die nächtlichen Straßen von Paris zur
Polizei.
Italienische Episode: ein gutsituiertes
Elternpaar vermißt den halbwüchsigen Sohn Claudio (Franco Interlenghi),
nachts zuhause. Am Fluß vor der Stadt versuchen zur selben Zeit Schmuggler,
ihr Boot zu beladen, - unter ihnen im hellen Anzug der Junge. Als Polizei sich
mit Sirenengeheul ankündigt, flüchtet die Bande in alle Richtungen
auseinander. Der Junge erschießt einen Polizisten und irrt lange in Panik
durch unwegsames Vorstadtgelände mit riesigen Baustellen, wo er in einen,
mit Monnier-Eisen gespickten Schacht stürzt. Von der Hitze, dem Sirenengeheul
und der Abwesenheit des Sohnes beunruhigt, gestehen sich die Eltern ein, daß
sie nichts über ihn wissen. Der Junge taucht morgens bei seiner Freundin
auf, die ihn in einem Krankenhaus unterzubringen versucht. Entkräftet schafft
es der Junge nicht mehr, weiter zu flüchten und gesteht der ahnungslosen
Freundin seine Taten - auf die er sich eingelassen hatte, um mit mehr Geld und
Gangster-Aura mehr Aufmerksamkeit von ihr zu gewinnen und wird im Zustand hilfloser
Hysterie von einem eintreffenden Polizisten kurzerhand erschossen.
Englische Episode: Ein Kleinstadt-Journalist
(Patrik Barr) geht auf den Anruf eines jungen Mannes (Peter Reynolds) ein, der
eine Exklusiv-Geschichte anbietet darüber, wie er in einem Heide-Gelände
(das wie eine begrünte Müllhalde aussieht) die Leiche einer Frau gefunden
haben will. Der Journalist läßt den skurril selbstbezogenen Jungen,
der sich als Poet versteht, die Story sogar selbst schreiben - wie von diesem
verlangt. Der Junge versucht, mit dem gedruckten Artikel Eindruck zu machen
in der Kleinstadt, vor allem bei einem hoffnungslos angeschwärmten Mädchen,
das von seiner gesamten Erscheinung, seiner Direktheit, naiven Selbstgefälligkeit
und exaltierten Sprechweise angewidert ist. Weil die Publicity ins Leere läuft
und dann abebbt, zumal die Polizei im Dunkeln tappt, wendet sich der Junge wieder
an den väterlich freundlichen Reporter und trumpft mit einem Mordgeständnis
auf, um einen neuen Artikel zu initiieren. Eine Rückblende rekonstruiert,
die Lücken des ersten Berichtes füllend, den Tathergang: der Junge
hatte sich nach dem Kino von einer verhärmten Frau ansprechen lassen, die
sich schüchtern als Gelegenheitsprostituierte zu erkennen gab, hatte sie
für sein Vorhaben, vom verkannten Poeten zur Berühmtheit aufzusteigen,
als geeignetes Opfer erkannt und erwürgt.
Die Produktionsgeschichte von
I VINTI ist belastet von Eingriffen und Kompromissen, hinter denen Antonionis
Konzeption verschwamm. Der fertige Film traf auf weitere Ressentiments von Zensurbehörden,
verstieß gegen die engen Regularien der Festivalbürokratie von Venedig
und fiel Jahre später zwei Richtungen von Kritik zum Opfer. Die pädagogisch
interessierte suchte den typischen Problemfilm über Jugendliche der (so
genannten) »verlorenen Generation« und rügte die direkte Darstellung
von Jugendverbrechen; die andere übte sich um 1960 in Festschreibungen
dessen, was als typischer Antonioni-Film zu gelten habe und definierte I VINTI
als uneinheitliches Nebenprodukt.
Die Schwächen des Films sind
die eines gescheiterten Experiments, bei dem sich Antonioni in seiner Weise
mit neorealistischen Ansätzen direkter als je wieder auf Sozialkritik einließ.
Er hat in allen Filmen Diskursformen zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen
gefunden, die ohne Metaphern und Symbole mit unterschiedlichen filmischen Mitteln
die Sujets tragen oder begleiten. (Mit Ausnahme des späten IL MISTERO DI
OBERWALD, wo ein neu entdecktes technisches Medium moderne Effekte setzt.) In
I VINTI sind die Fabeln der drei Episoden dagegen direkt dem Material dreier
spektakulärer Kriminalfälle in Italien, Frankreich und England entlehnt.
Jugendproblemfilme wurden erst nach I VINTI international zu einer Art Genre,
beim Start des Films in der Bundesrepublik Deutschland 1956 nutzte die Kritik
die Zuordnung jedoch herablassend als Etikett eines Modefilms. [Stuttgarter
Zeitung, 5. Mai 1956; Kath. Filmdienst 13. Dez. 1956; Informationsblatt für
Jugendfilmclubleiter, ohne Datum]
Antonionis Realismus-Modell hält
jedoch auch in diesem Film Distanz zum Unmittelbaren. Er faßte die für
ihn interessanten Aspekte in Kurzgeschichten, die er zusammen mit Co-Autoren
zu Drehbüchern weiterentwickelte. Er suchte in den drei Ländern junge
Schauspieler und Schauspielerinnen für die Hauptrollen. In diesem Verzicht
auf die Aura von Laien-Authentizität liegen die Schwächen des Films
offen, weil die Darsteller in den Episoden charakteristische Temperamente oder
Mentalitäten ihrer Nationalität jeweils überdeutlich ausspielen.
Vor allem in der französischen Episode läßt Antonioni das eifersüchtige
verräterische Brüderpaar mit allem Akademie-Pathos ihren Verve
zelebrieren. In der italienischen Episode bindet die sportlich strapaziöse
Anstrengung von Franco Interlenghi auf der Flucht durch die Borgate-Baustellen
viel von seiner jugendlichen Sentimentalität, die dann in der Schlußsequenz
umso schriller wird. Die englische Episode hält einen Gestus skurrilen
schwarzen Humors im Spiel von Peter Reynolds, der es schafft, wie ein großäugiges
blasses, unschuldiges Baby auszusehen, und in seiner affektierten Sprechweise
zugleich andeutet, daß sein Ehrgeiz brutale Züge trägt. Diese
Episode ist eine dichte Kurzgeschichte über Puritanismus und Manie.
I VINTI ist ein früher Ansatz
Antonionis, nicht nur in der Verarbeitung anderer Kino-Muster (wie in CRONACA
DI UN AMORE)
oder in der Arbeit mit ausländischen Schauspielern (wie in seinen nächsten
Projekten), sondern direkt an den Schauplätzen seiner Sujets universelle
Filme zu inszenieren, in denen die spezifischen Eigenheiten der Orte und Physiognomien
aufgehoben sind. Er drehte in den Originalsprachen, weshalb die dreisprachige
Fassung bei den Filmfestspielen in Venedig 1953 nicht als italienische Produktion
akzeptiert wurde und, statt im Wettbewerb, in einem Nebenprogramm zu sehen war.
Eine Ausnahme blieb dagegen der
deutliche Stempel eines moralischen Plädoyers. Außer im Titel I VINTI
(Die Besiegten, ursprünglicher Titel Ohne Liebe, deutscher Verleihtitel Kinder unserer Zeit) dokumentiert er seine Haltung
auch in einem Textvorspann, in dem die drei Fälle als Symptome des Sinn-
und Wertverlustes in der Konsequenz des Krieges dargestellt und thematisch aufeinander
bezogen werden. Alle drei Geschichten sind komprimiert auf die Ereignisse, genauer:
auf die Situationen der Jugendlichen unmittelbar vor und nach den Taten. I VINTI
erzählt also besser, als es der Text-Appell erwarten läßt, von den Jugendlichen, nicht über sie.
Ursprünglich war für
die italienische Episode ein brisanterer Stoff vorgesehen: die Geschichte eines
jungen Faschisten, der im Nachkriegs-Italien nostalgisch >erhabenen< Träumen
nachhängt, Bomben fabriziert, Attentate zu organisieren versucht und in
seinem Fanatismus mit den Parteiführern aneinandergerät. Es macht
ihn rasend, daß die Partei verbürgerliche, daher will er ein Fanal
setzen und bringt sich auf raffinierte Weise um, damit sein Selbstmord als Mord
erscheine und sein Märtyrertod die Italiener aus ihrer Lethargie reiße.
[Arturo Botta, Sujet der nicht realisierten italienischen Episode
von I VINTI, in P.Leprohon, S.89]
Dieser Episode wurde die staatliche
Förderungsprämie verweigert, und die Geschichte des jungen Schmugglers
aus gutem Hause mußte in aller Eile geschrieben werden. Antonioni hat
sich mit diesem Ersatz nicht einverstanden erklärt. Die Episode variiert
beiläufig Antonionis Stärke in der bissig knappen Darstellung bornierten
Bürgertums (die hilflosen Eltern und die gleichgültig blasierten Jugendlichen
bei einer Party im Haus der Freundin) und in der Inszenierung optisch dichter
Streifzüge durch eine zerstörte Stadtlandschaft (Claudios Flucht).
Aber sie argumentiert am deutlichsten moralisch, wenn die Hauptfigur am Ende
selbst Opfer ihrer Tat wird und vorher in einem Ausbruch innerer Qual sich selbst
erklärt.
Die französische Episode
basiert auf einem, zur Zeit der Dreharbeiten wieder aus den Schlagzeilen verschwundenen
Fall, bei dem Jugendliche aus einem »etwas perversen Geschmack an der
Tat aus freien Stücken« [Paul-Louis
Thirard in M. A. Antonioni, Premier Plan, Nr. 15, 1960] einen Freund umbrachten. Die französische Zensur fürchtete
eine neue öffentliche Diskussion um den Fall und die Prozeßführung,
zwang Antonioni zu Schnitten, die auf Kosten der Plausibilität und des
inneren Rhythmus' der Ereignisse gingen, und verbot später doch die Aufführung
von I VINTI in Frankreich endgültig.
In der erhaltenen Fassung läßt
die Kontrastierung zwischen der harmlos freundlichen Nebenfigur von Annie Noel
und der liebenswürdig koketten Zizi (Etchika Choureau), die ihre erotische
Ausstrahlung nur manchmal unerwartet berechnend einsetzt, noch etwas ahnen von
der Komplexität der Ausgangsidee.
Die italienische Episode spricht
die Sprache eines ungleichzeitig wirkenden, emphatisch neorealistischen Engagements,
die französische Episode hätte in der Tradition des poetischen Films
von einer rücksichtslosen Romantik erzählen können: nur die englische
Episode ist ganz konsequent eine abgründige Schwarze Komödie.
André Bazin, der den Film
1953 in Venedig sah und trotz vieler Einwände mit Zuneigung kommentierte,
wies auf ein besonderes Stilmittel Antonionis hin, mit dem er sich von identifikatorischen
Vereinfachungen distanzierte: im ganzen Film gibt es keine Schuß/Gegenschuß-Einstellungen.
[Cahiers du Cinema, Nr. 27, Oktober 1953]
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: * Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Kinder
unserer Zeit
I VINTI
Italien 1952.
Regie: Michelangelo Antonioni. – Sujet: Michelangelo Antonioni, Suso
Cecchi D'Amico, Diego Fabbri, Turi Vasile. - Buch: Suso Cecchi D'Amico, Michelangelo Antonioni,
unter Mitarbeit von Diego Fabbri, Turi Vasile und Roger Nimier (franz. Episode). - Kamera: Enzo Serafin. - Kamera-Führung:
Aldo Scavarda. - Schnitt: Eraldo Da Roma. - Ton: Alberto Bartolomei. - Musik:
Giovanni Fusco. - Bauten: Gianni Polidori, Roland Berthon. - Regie-Assistent:
Francesco Rosi. - Assistenten: Alain Cuny, Jimmy Mason, Pietro Notarianni. - Darsteller: Französische Episode:
Etchika Choureau (Simone), Jean Pierre Mocky (Pierre), Henri Poirier (Andre),
Jeacques Sempey, Annie Noel, Guy de Meulan; Italienische Episode: Franco Interlenghi
(Claudio), Anna Maria Ferrero (Marina), Evi Maltagliati (Claudios Mutter), Edoardo
Cianelli (Claudios Vater), Umberto Spadaro, Gastone Renzelli; Englische Episode:
Peter Reynolds (Aubrey), Patrick Barr (Kent Watton), Fay Compton (Mrs. Pinkerton),
Eileen Moore, Raymond Lovell, Derek Tansley, Jean Stuart, Tony Kilshaw, Fred
Victor, Charles Irvin. - Produktion:
Film Costellazione, Rom. - Produktionsleitung: Paolo Moffa. - Gedreht in Paris,
Rom, London. - Format: 35 mm, sw. – Original-Länge: 105 min. – Deutsche Länge: 94 min. - Uraufführung:
4.9. 1953, Filmfestival Venedig. – Deutsche Erstaufführung: 14.4. 1956 oder 12.10.
1956 (ungeklärt). - TV: 4.3. 1967 (ZDF). – ohne Verleih: -. TV-Titel: Die
Besiegten.
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