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Kinsey
Der
Vater der sexuellen Revolution – Kinsey von Bill Condon
Im
Zuge des allgemeinen Trends, Filme based
on a true story zu
drehen, erfreuen sich filmische Biographien neuer Beliebtheit. Im Falle des
Sexualforschers Alfred Kinsey ist für einmal auch eine wirklich epochemachende
Persönlichkeit Hauptfigur eines Films: Mit seinen breit angelegten Untersuchungen
zum Sexualverhalten der amerikanischen Bevölkerung war Kinsey nicht nur
ein Pionier der empirischen Sozialforschung, er hat auch das Verständnis
menschlicher Sexualität grundlegend verändert. Nicht umsonst gilt
er als Vater der sexuellen Revolution.
Der
Film rollt die Vita Kinseys (Liam Neeson) mittels eines geschickten Kunstgriffs
auf: Zu Beginn steht Kinsey selbst einem seiner Assistenten in einer simulierten
Befragung Rede und Antwort. Auf diese Weise wird nicht nur Kinseys bisheriges
Leben effizient abgehandelt, auch sein wichtigstes wissenschaftliches Instrument
kommt zur Geltung: Das Interview. Kinsey unterbricht seinen Befrager fortlaufend,
hält ihn immer wieder dazu an, sein Gegenüber nicht einzuschüchtern
und vor allem nicht zu werten.
Objektives
Beobachten, das ist in Kinseys Augen die Haupttugend des Wissenschaftlers, und
es ist dieser Drang nach einem unvoreingenommenem Blick auf die Wirklichkeit,
der ihn überhaupt erst zur Sexualforschung bringt. Aufgewachsen unter der
Fuchtel eines stockkonservativen protestantischen Pfarrers, hat er mit Sexualforschung
lange wenig am Hut. Am Tag seiner Heirat ist Kinsey – wie auch seine Frau –
noch Jungfrau, und der Versuch, die Ehe zu vollziehen, endet in einem Debakel.
Ein freundlicher Gynäkologie weiss glücklicherweise Rat, und mit einem
Mal erkennt Kinsey, wie wenig die Wissenschaft – und erst recht die breite Bevölkerung
– eigentlich über Sex weiss. Für den fanatischen Sammler und Messer,
der bis dahin eine Million Exemplare der Gallwespe präpariert und klassifiziert
hat, steht schnell fest, dass hier nur empirische Forschung Aufschluss bringen
kann.
1948
erscheint Sexual
Behaviour in the Human Male,
und das prüde Amerika kann erstmals schwarz auf weiss nachlesen, dass vorehelicher
Geschlechtsverkehr, Selbstbefriedigung und Homosexualität entgegen der
geltenden Moral alles andere als selten sind. Mit diesen Ergebnissen macht sich
Kinsey so ziemlich überall unbeliebt, bei den Psychoanalytikern – diesen
Aspekt lässt der Film weitgehend aus – ebenso wie bei allen Moralaposteln
und Frömmlern. Kinsey selbst sieht sich immer mehr in der Rolle des sexuellen
Befreiers, alleine im Kampf gegen Prüderie und verlogene Moral.
Billy
Condons Film ist ein solides Portrait, das Kinseys Leistungen zeigt, ohne zu
unterschlagen, dass er mitunter ein unmöglicher Zeitgenosse mit grossen
sozialen Defiziten war, der seine Arbeit wirklich über alles stellte. Das
Interessanteste und eigentlich auch Absurdeste an Kinsey ist aber, dass der
Film heute, fast sechzig Jahre nach Veröffentlichung des ersten Kinsey-Reports,
in den USA von grösster Aktualität und politischer Brisanz ist. All
jene Kräfte, gegen die Kinsey zu kämpfen hatte, sind im Amerika George
W. Bushs präsenter denn je. Die konservativ-christliche Filmkritik sieht
in Kinsey denn
auch so etwas wie das gottlose Gegenstück zu Mel Gibsons Bibelmachwerk
The
Passion of the Christ.
Für Condon – selbst ein bekennender Homosexueller – dürfte wohl gerade
das Wiedererstarken der Prüderie ein wesentlicher Grund gewesen sein, den
Film zu drehen.
Simon
Spiegel
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
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diesem Film gibt es im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Kinsey
USA
/ Deutschland 2004 - Regie: Bill Condon - Darsteller: Liam Neeson, Laura Linney,
Chris O'Donnell, Peter Sarsgaard, Timothy Hutton, John Lithgow, Tim Curry, Oliver
Platt, Lynn Redgrave - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge:
118 min. - Start: 24.3.2005
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