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Kira
Dogma
21: ein Ehedrama
31
Dogma-Filme gibt es, und Kira, inszeniert
von dem Dänen Ole Christian Madsen, ist in dieser Zählung Nummer 21.
Madsen hat sein Kammerspiel aus den Charakteren und ihren Darstellern Stine
Stengade und Lars Kikkelsen entwickelt, die er aus seiner vorherigen Arbeit
kannte und schätzte. Dogma heißt hier: Direktton, begrenzte Schauplätze
und eine Digi-Beta-Hand-Kamera, die meist nah um die Figuren kreist.
En
Kærlighedshistorie
heißt dieser Film in der dänischen Originalfassung: eine Liebesgeschichte.
Der deutsche Titel Kira
setzt den Akzent mehr aufs Einzelporträt, während die englische Version
mit Kira's
Reason
(einem Wortspiel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes "reason", das
sowohl Verstand wie Grund heißen kann) wieder einen anderen Aspekt in
den Vordergrund rückt. Drei Titel für einen Film: das sind auch drei
unterschiedliche Möglichkeiten, ihn zu sehen.
Vor
allem eine Liebesgeschichte ist der Film für Regisseur Ole Christian Madsen.
Eine Liebesgeschichte zweier erwachsener Menschen, die nicht am Anfang, sondern
an einem Krisenpunkt ihrer Beziehung stehen. Mads und Kira sind Eheleute, er
Architekt, sie Mutter und Hausfrau; zwei kleine Söhne gibt es, ein teuer
eingerichtetes Haus mit viel Platz und einem Pool im Garten. Doch als der Film
beginnt, ist Kira nicht daheim: Einen Klinikaufenthalt hat sie gerade beendet,
in der Psychiatrie; weshalb und warum erfährt man nicht so genau. "Vielleicht
war ich einfach zu traurig", sagt Kira.
Jetzt
scheint alles gut zu sein. Mads, der in Kiras Abwesenheit ein Verhältnis
mit ihrer Schwester hatte, verabschiedet sich endgültig von der Geliebten.
Dann holt er die Ehefrau vom Krankenhaus ab. Mads will alles richtig machen,
er liebt seine Frau. Doch bald zieht sie sich von der feiernden Gesellschaft
zurück: vor allem eine Bitte um Intimität und Liebe an den Ehemann.
Eine drängende, fast verzweifelte Bitte, die diesmal von Mads noch eingelöst
werden kann. Doch schon bald werden Kiras Extravaganzen den Ehemann überfordern.
Und sie wird von seiner Verständnislosigkeit verletzt. Immer unvermittelbarer
treffen die Ansprüche der beiden aufeinander und treiben das Paar in eine
Abwärtsspirale von Verletzungen.
Intensive
Glücksmomente stehen neben Szenen fast unerträglicher Aggression.
Was ist los mit Kira? Den Anforderungen, die Ehemann und Gesellschaft an sie
als Ehefrau und Mutter stellen, ist die junge Frau nicht gewachsen. Ein weiteres
Kind wünscht sie sich, doch den beiden vorhandenen ist sie weniger Mutter
denn Spielkameradin. Im Hallenbad tollt sie mit den Söhnen so wild im Wasser
herum, dass die Bademeister sie mit Gewalt aus dem Becken holen. An einem verkaterten
Morgen nach einem One-Night-Stand ruft sie aus dem benachbarten Malmö an,
um sich abholen zu lassen. Selbst ein verständnisvoller Mann wie Mads ist
da überfordert. Gerade die Schwimmbadszene zeigt aber auch, wie maßlos
und unangemessen die Umwelt auf abweichendes Verhalten reagiert und damit Kiras
zunehmend hysterische Reaktionen erst provoziert. Und auch bei Mads bricht trotz
aller bemühten Toleranz in emotional aufgeladenen Situationen ein Weltverständnis
durch, das im Wesentlichen auf Konvention und Äußerlichkeiten baut.
In
einer Parallelgeschichte wird von Kiras Auseinandersetzung mit ihrem Vater erzählt,
der die Familie früh verlassen hat, weil er "sich selber wählte",
wie er es formuliert. Jetzt ist er ein alter, seine Schwäche mit autoritärer
Geste überspielender Mann und Kiras Fluchtpunkt in der Not. Manchmal sieht
es so aus, als könnte in diesem Vater-Tochter-Verhältnis der Schlüssel
zu Kiras schwierigem Leben liegen. Doch ein solcher eindeutiger Erklärungsansatz
wäre in diesem Film fehl am Platz. Denn Kira verzichtet
auf eindimensionale Schuldzuweisungen und Kausalitäten, fächert stattdessen
ein differenziertes Geflecht an Wirkungsbeziehungen auf.
Vieles
in Kira lässt
an John Cassavetes' A
Woman Under the Influence denken,
auch wenn Kira und Cassavetes' von Gena Rowlands gespielte Mabel ganz unterschiedliche
Charaktere sind. Auch Mabel allerdings geht mit ihren Kindern mehr als Gleichaltrige
denn als Mutter um. Auch Mabel landet betrunken in fremden Betten. Fast ein
Zitat schon ist eine zentrale Szene gegen Ende von Madsens Film, als Kira einmal
perfekte Ehegattin sein will und für die Geschäftspartner ihres Mannes
ein Abendessen in einem Hotel arrangiert, dabei aber durch ihr unangemessenes
Verhalten zunehmend aus dem (gesellschaftlichen) Rahmen fällt. Und wie
Cassavetes gelingt es auch Madsen, durch seine langen szenischen Einstellungen
eine untergründige Dauerspannung jenseits der Wechselfälle des Plots
herzustellen. Das gipfelt in einer langen intensiven Schlusssequenz, in der
zweimal ein Tischtuch eine wichtige dramaturgische Rolle spielt: zuerst als
Trägermaterial eines Abschiedsbriefs, dann als Umhüllung für
einen wundersamen Liebestanz, der alles Recht hätte, als Klassiker in die
Filmgeschichte einzugehen.
Es
macht Madsens "Liebesgeschichte" nicht unglaubwürdiger, dass
sie mit einem fast märchenhaften Ende aufwartet. Nur dass dann kurz vor
dem Schlusspfiff doch noch eine simple Begründung für Kiras Unverständigkeit
nachgeliefert wird, wäre wirklich nicht nötig gewesen. Denn "Kira's
Reason" ist von allen möglichen Filmvarianten sicherlich die banalste.
Silvia
Hallensleben
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Kira
En
Kærlighedshistorie
Dänemark
2001. R:
Ole Christian Madsen. B:
Ole Christian Madsen, Morgens Rukov. P: Morten Kaufmann, Bo Ehrhardt. K:
Jörgen Johansson. Sch:
Sören B. Ebbe. M: Øyvind Ougaard, César Berti. T: Sigurdur
Sirgurdsson, Pètur Einarsson. Pg: Nimbus Rights ApS/Zentropa Entertainments/DRTV
Drama. V: Arsenal. L: 92 Min. DEA: Filmtage Mannheim-Heidelberg 2001. Da: Stine
Stengade (Kira), Lars Mikkelsen (Mads), Sven Wollter (Kiras Vater), Peacheslatrice
Petersen (Kay), Camilla Bendix (Charlotte), Lotte Bergstrom (Michelle), Thomas
W. Gabrielsson (Gustav).
Start:
24.10.2001 (D), 28.11.2001 (CH).
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