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Klassenfahrt
Das Problem des “Neuen Deutschen
Teenagerfilms“ ist das Missverständnis einer scheinbar für nötig
geglaubten Überauthentifizierung seiner Milieus. Als wären die Codes
der Jugendkultur geschlossene (Kommunikations-)Systeme, die nach Belieben de-
bzw. rechiffrierbar. Hier liegt ein gravierender Irrtum vor. In den detailgetreuen
Rekonstruktionen von Szenen und Subkulturen verflachen die sozialen Ereignisse
und Milieus lediglich zu urbaner Folklore. Jede Geste und Handlung leidet so
auch unter dem Wissen ihrer Inszenierung. Problematisch ist an Paradebeispielen
wie „Absolute Giganten“ oder „Alaska.de“ vor allem, dass sich die Macher aus den modischen
Diktaten, die letztlich immer nur stilistische Verzerrungen bleiben, die Daseinsberechtigung
für ihre Filme ableiten. So verkommt das Alltäglich-Banale allerdings
bloß zur Methode einer falsch verstandenen Authentizität. Die Handkamera
ist die „Waffe“, die solche Manierismen neuerdings zum Anschlag bringen.
Henner Wincklers Film „Klassenfahrt“
entzieht sich diesen Authentizitätsfallen elegant, ohne sein Milieu zu verraten.
Sein Blick unterliegt keinerlei Zwängen und Vorurteilen, derer er sich
erst entledigen müsste. In dieser Sicherheit zeigt sich auch die Nähe
von Winkler zu seinen jungen Darstellern. In seiner zurückhaltenden Schilderung
eines sehr kurzen Lebensabschnitts einiger Teenager zeichnet sich die ganze
Problematik des Erwachsenwerdens in trotziger Schweigsamkeit ab: eine Klassenfahrt
an die polnische Ostsee. Der Film beginnt mit der Fahrt im Bus. Die Zehntklässler
tauschen erste Liebeserfahrungen aus, reden übers Saufen und pöbeln
sich an. Eine typische BVG-Situation.
In der Beobachtung seiner Figuren
gelingt es Winckler aber schon in diesen ersten Minuten, die soziale Ordnung
der Jugendgruppe herauszuarbeiten. Sehr diskret tastet er die Konstellationen
ab, und schafft so Nähe. Bemerkenswert hierbei, wie genau er den Slang
der Teenager trifft. Ihre Sprache ist brüchig und laut, die Worte sind
roh und unüberlegt. Faszinierend unscharf wird sie in den emotionalen Momenten,
dann bekommt dieses Ungeschliffene so etwas wie eine hilflose Erhabenheit. Diesen
beharrlichen Stolz drücken vor allem Ronny und Isa in ihren kurzen, scheuen
Dialogen aus. Ihr Unvermögen, Gefühle zu artikulieren, mündet
in eine Tragödie. Und der polnische Badeort während der Nachsaison
ist in seinem schmierigen Grau die perfekte Kulisse für die Unbilden der
Adoleszenz.
Zufluchtsort vor dieser hässlichen
Einöde und dem Zugriff der autoritären Figur, dem Lehrer, ist die
Disco „Paradise“, wo man sich abends mit den örtlichen Jugendlichen vermischt.
Ronny und Isa lernen den achtzehnjährigen Marek kennen, der den Sommer über in
einem Strandhotel gearbeitet hat und nun seine letzten Tage im Ort verbringt.
Zwischen den beiden Jungen entwickelt sich ein Machtkampf um die Gunst des Mädchens:
der Wettbewerb ist ihre früheste Erfahrung aus der Welt der Erwachsenen.
Und langsam verlagern sich die Kämpfe vom Psychologischen ins Körperliche.
Das Körperliche beschränkt
sich in „Klassenfahrt“ vorerst noch auf die Jungswelt. Am Strand balgen sie
sich beim Ballspiel, um den Mädchen zu imponieren. Später berherrscht
dann wieder der Straßenslang ihre Redeweisen über ihre Klassenkameradinnen.
In solchen formalen Details liegt die Stärke von „Klassenfahrt“. Die Kamera
sucht nicht in jedem Bild nach Selbstvergewisserung, sie orientiert sich diskret
am unprätentiösen Stil der Laiendarsteller, für die noch nicht
jeder Gang an den Frühstückstisch eine kleine Performance bedeutet.
„Klassenfahrt“ verschwört sich vielmehr mit seinen Figuren gegen die Welt
da draußen. Mit der Modeerscheinung „Authentizität“ hat das noch
lange nichts zu tun.
Andreas Busche
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der taz
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Seit dem 15.10.2007 gibt es bei der filmgalerie 451(www.filmgalerie451.de ) endlich die "Klassenfahrt"-DVD mit einem Interview-Auszug mit dem Regisseur (aus Revolver, Heft 11, www..revolver-film.de) und mit drei schönen Kurzfilmen von Henner Winckler. (A. Thomas)
Klassenfahrt
Deutschland
2002 - Regie: Henner Winckler - Darsteller: Sophie Kempe, Steven Sperling, Bartek
Blaszczyk, Maxi Warwel, Jakob Panzek, Fritz Roth - FSK: ab 12 - Länge:
85 min. - Start: 26.9.2002
DVD-Daten: codefree, Dolby SR, Bild 16:9, Sprachen: deutsch/polnisch / Untertitel: englisch
Extras: Biographie von Henner Winckler, Kinotrailer, 3 Kurzfilme von Henner Winckler: TIP TOP (14min.), POOL (8:40min.), DARLINGS (4:50min.)
empf. VK: 19,90 EUR, Bestellnummer: 45373, EAN-Code: 9783937045733, ISBN: 978-3-937045-73-3
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