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Klassenleben
„Ich glaube, Erziehung
hat mit allem was zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit
Freundlichsein, das letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht
hassen.“
(Schüler
Dennis in
„Klassenleben“)
Bei manchen Filmen kratzt
man sich am Kopf und fragt sich, wer sie warum für wen gedreht hat und
warum man bitteschön teuer Geld bezahlen muss, um sie auf der Kinoleinwand
zu sehen. Der Dokumentarfilm „Klassenleben“ ist dafür ein schönes
Beispiel.
Ein Mensch namens Hubertus
Siegert hat ein halbes Jahr lang eine Berliner Schulklasse in ihrem Unterricht
gefilmt - sechs der Kinder in den Mittelpunkt gestellt -, hat das Ganze dann
episodisch gegliedert, mit ein Paar Off-Schülerkommentaren und Musik unterlegt
und findet das Resultat so spannend, dass er es dem Kinogänger auf keinen
Fall vorenthalten will. Der Film zeigt einen ganz normalen Schulalltag mit Gruppenarbeit,
Referaten und den Proben zu einem Theaterstück, also Unterrichtsstandards,
die jedem geläufig - und hier und da in unschöner Erinnerung - sind,
der eine deutsche Schule seit den pädagogisch bemühten siebziger Jahren
besuchen musste. Und er zeigt Schulkinder, die in einem dieser hässlichen
Betonschulgebäude lernen sich aufeinander einzustellen, sich berühren,
zu begreifen, wie das sein muss, wenn man sich ausgeschlossen fühlt (Bert
Hellingers Methode der „Aufstellung“ sei Dank), um zum Halbjahresende aber doch
getrommelt und gepfiffen bekommen, dass gesellschaftstauglich nur sein wird,
wer wirtschaftstauglich ist: Spätestens bei der Benotung ist klar, dass
die Goldene Regel heißt: Jeder gegen Jeden. Nicht Solidarität, sondern
individuelle Leistung entscheidet, und so sehr sie auch gelernt haben, einander
freundlich anzuschauen, die Kinder dieser fünften Klasse haben sichtbar
kapiert, was hier gespielt wird und welche Rollen sich für einen guten
Schnitt am besten eignen.
Das Gute an Dokumentarfilmen
ist, dass sie immer Authentizitäten zeigen, dass Wirklichkeit ihr Grundstoff
ist. Das Schlechte an „Klassenleben“ ist, dass Siegert seiner Doku das hehre
Sendungsbewusstsein der Fläming-Schule, Berlin, aneignet und sich von Frau
Haases, der Klassenlehrerin, begeistertem pädagogischem Selbstbild anstecken
lässt – sprich: Siegert betreibt Werbung für eine moderne „schülerfreundliche“
Pädagogik, die kaum eine ist. Ganz traditionell vergrämt sieht Frau
Haase aus, und genauso wie es die Lehrer immer schon gemacht haben, redet sie
von „Vereinbarungen“, wenn sie Anordnungen trifft. Wie alle normalen Schülergenerationen
vor ihnen sind die Schüler und Schülerinnen nervös, ängstlich
und verkrampft, wenn sie ein Referat halten sollen. Von einem freudigen Lernen,
von einem lebendigen „Klassenleben“ ist nicht mehr zu sehen als an jeder x-beliebigen
Schule - also nicht allzu viel.
Schule ist die Vorbereitung
zur Rücksichtslosigkeit im Konkurrenzkampf um Jobs - oder zur Arbeitslosigkeit.
Noch nie hat das Arbeitsleben mehr Einzelkämpfermentalität vorausgesetzt
als heute. Das „Lernziel Solidarität“ ist ein totaler Anachronismus, weil
es kapitalismusfern ist – und der Kapitalismus ist so nahe wie nie. Aber der
Gefahr zuviel antikapitalistische Solidarität zu entwickeln oder sich im
Unterricht zu wohl zu fühlen sind die Kinder der Klasse 5d nicht wirklich
ausgesetzt, dafür funktioniert die Leistungsideologie zu gut.
„Klassenleben“ zeigt den
ganz banalen deutschen Schulstandard, auch sozial-pädagogische Ringelpiezmitanfassen-Spiele
sind heutzutage länderübergreifend verbreitet. Nur eine Kleinigkeit
an dieser Schule ist untypisch, die „Integration“ behinderter Kinder in die
Klasse. Damit ist gemeint, dass ein Mädchen mit Down-Syndrom (das nie seinen
Anorakreißverschluss zubekommt, wobei ihm immer wieder die anderen helfen
müssen, um irgendwann festzustellen, dass er klemmt), ein schwerstbehindertes
und zwei weitere gehandicapte Kinder dem Klassengeist soziales Flair verleihen.
Zum Dank, dass sie sich dergestalt zur Verfügung stellen, bekommen sie
keine Noten, und sie brauchen auch nichts zu leisten – außer behindert
zu sein und den Nichtbehinderten als Toleranzübungsobjekte zu dienen. Dass
Kinder auf diese Art eine neue, freundliche Form der Ausgrenzung verinnerlichen,
ist programmiert. Diskriminierung wird so nicht aufgehoben, sondern unter pädagogisch
wertvollen Zeichen erneut eingeführt.
Der Rest - von der eben beschriebenen „Integration“ einmal abgesehen – handelt vom typisch deutschen Schulalltag, was interessant genug wäre, wenn der Film es schaffen würde, über seine tendenziell positive Perspektive hinaus zu gelangen und zur Stärke etwa seines offensichtlichen Vorbilds „Sein und Haben“ zu finden, die darin bestand, genauer in die Psyche von Lehrer und Schüler zu schauen. Weil aber „Klassenleben“ leider nur Werbung machen möchte für eine oberflächliche Sozialkosmetik im drögen Schulsystem bleibt dem Zuschauer nur, die Momente abzupassen, wenn hinter dem angestrebten Idealbild die kleinen Wahrheiten durchgucken, doch die sind zu selten für echte Kinoqualität, bestenfalls geeignet für das Fernsehen, ab 0.00 Uhr, dann, wenn alles sowieso schon schläft.
Immerhin schön, dass
dem Pressematerial auch Statements der mitwirkenden Kindern beigefügt sind.
Eines davon finde ich als Schlusswort besonders geeignet: „Im
Film kommt es so rüber, als ob sich alle freuen und supergerne in die Schule
gehen. Aber das stimmt so nicht“
(Schüler Christian im Interview nach dem Film).
Dieser Text ist nur in
der filmzentrale erschienen
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diesem Film gibt’s im archiv
Deutschland
2005, 87 min., 35 mm, 1:1,66, Dolby Digital
Buch
und Regie: Hubertus Siegert
Kamera:
Armin Fausten, Schnitt: Bernd Euscher
Produzent:
Hubertus Siegert
Darsteller:
Schülerinnen und Schüler der Klasse 5d der Fläming-Schule (2004),
Klassenlehrerin: Gudrun Haase
Start
1.9.2005
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