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Kleine Freiheit
Zu Beginn sieht man die körnigen Bilder einer Videokamera.
Es sind Erinnerungen, die Baran (Cagdas Bozkurt) mit sich herum trägt,
aufgezeichnet mit einem seiner wenigen Besitztümer - einer Videokamera.
Die in den Bildern seiner fernen Familie manifestierte Sehnsucht ergänzt
der Jugendliche mit neuen Bildern der Stadt, die ihm zwar keine Heimat, aber
zumindest Aufenthaltsort geworden ist. Das verschwommene, sich mit jedem Abspielen
verschlechternde Videobild als ästhetische Codierung für Erinnerungsbilder
ist eine Metapher, die im Diaspora-Kino häufig Verwendung findet: Seien
es die Videoaufnahmen des kanadische Fotografen armenischer Herkunft seiner
Heimat in Atom Egoyans Calendar oder die verschwommenen Bilder der Mutter der Regisseurin
in Mona Hatoums Measures of Distance: das sich zersetzende Videobild erzählt häufig
vom Erinnern und vom Vergessen.
Nicht nur die Ästhetik in Yüksel Yavuz' neuem
Film Kleine Freiheit, mit dem das 2. Kurdische Filmfestival Berlin eröffnet
wurde, erzählt vom Umgang mit Vergangenem, die Bilder spiegeln auch eine
dominante inhaltliche Ebene des Filmes. Baran hat beide Eltern verloren, und
in einem älteren Mann aus seinem Umfeld glaubt er jenen Verräter wieder
zu erkennen, den er für den Tod seiner Eltern verantwortlich macht. Eindringlich
wird geschildert, wie der kulturelle Konflikt sich in die neue Heimat der Beteiligten
überträgt, wie Baran umzugehen
versucht mit Rachedurst und fremder Schuld. Die Flucht der Figuren in die Vergangenheit
mag noch einen anderen Grund haben als die zurück liegenden Konflikte:
Für Baran scheint es nur konsequent, seine Gedanken um Vergangenes kreisen
zu lassen, bietet ihm doch die Gegenwart kaum Möglichkeit zur Entfaltung
- in Deutschland hält er sich illegal auf, sein Asylantrag wurde abgelehnt
und jedesmal, wenn er für die Dönerbude, bei der er arbeitet, Kebap
ausfährt, droht ihm die Entdeckung und damit das Ende seines hiesigen Lebens.
Es tut gut, einen Film zu sehen, der sich mit der Thematik von Asyl und illegaler
Immigration beschäftigt, denn trotz der kontinuierlichen Ausschlachtung
der Thematik für diverse populistisch geführte Wahlkämpfe hält
sich das Thema noch erstaunlich fern vom deutschen Film, der, wenn er politisch
wird, lieber in die Vergangenheit blickt , um RAF-Traumata aufzuarbeiten.
Auch die technische Umsetzung des Themas überzeugt:
Die Kamera von Patrick Orth verfolgt unablässig ihren Hauptdarsteller und
ist dabei ständig in Bewegung: mit dem Jugendlichen gemeinsam auf dem Fahrrad,
im Bus oder neben ihm auf der Straße. Die Häuser im Hintergrund verschwimmen,
wenn die Leinwand das Gesicht seines Hauptdarstellers in Bewegung fixiert, sie
werden zu einer nicht mehr greifbaren Textur, die sich über das Leben Barans
legt, Barans Körper ist der einzige Punkt, an dem sich der Zuschauer noch
orientieren kann. Die Verlorenheit in einer Stadt, die ihre Konturen eingebüßt
hat, das Driften des Jungen durch die Straßen ohne Bezugspunkt und Halt
werden von Yavus und Orth auf bewundernswerte Weise in kinematographische Mittel
umgesetzt.
Es gibt jedoch auch einen Lichtblick zwischen Verlorenheit
und Umherirren, den der Regisseur seinem Hauptdarsteller gönnt: die Freundschaft
zu einem anderen Jugendlichen - Chemor (Leroy Delmar), der sich in ähnlich
aussichtsloser Lage, immer dabei, vor der drohenden Abschiebung zu flüchten,
sein Geld auf dem Drogenmarkt Hamburgs verdient. Zwischen den beiden entspinnt
sich eine Beziehung, die beständig auf dem schmalen Grat zwischen Freundschaft
und Liebe wandelt. Yavuz erzählt äußerst sensibel von der sich
anbahnenden Liebe am Rande des Erwachsen-werdens, von der vorsichtigen Annäherung,
die sich in kleinen Gesten und mit wenigen Worten vollzieht. Er erzählt
aber auch davon, wie die Beziehung der Beiden mit der beständigen Möglichkeit
ihres jähen Endes zurechtkommen muss, eine Freundschaft im Konjunktiv,
deren Existenz wie die Bilder der Videokamera jederzeit vom Auslöschen
bedroht ist. Am Ende des Filmes sieht man sie dann auch wieder, die Bilder vom
Anfang: Barans Familie in der Türkei, ihre alten, vom Leben gezeichneten Gesichter, ihre Gespräche. Die Erinnerungen werden
nicht mehr lange anhalten, denn in der unteren Ecke des Bildausschnittes blinkt
bereits das jeder Erinnerung drohende Schicksal: die Ladeanzeige des Akkus ist
leer - die Bildproduktion kommt an ein Ende.
Regie: Yüksel Yavuz
BRD, 2003
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