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Rio
Reiser - König von Deutschland
Best of Rios Alptraum
Ein
retrospektiv-assoziatives Ton Steine Scherben-Lamento, (anlässlich einer
DVD-Veröffentlichung)
Januar
1971, nachts um halb vier, irgendeine Kneipe in Kreuzberg, aus der Music-Box
hören wir: „Wir streiken“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Meinem
großen Bruder ist es zu platt, zu jugendlich unreflektiert und wohl auch
brachial, aber es ist auch viel kompromissloser als vieles, was mir 12-jährigem
Rock-Fan bis dahin zu Ohren gekommen ist. Radikaler „Agit-Rock“, wie das später
genannt wurde, musikalisch zwischen den Stones (woher die „Steine“ zwischen
dem „Ton“ und den „Scherben“ kommen) und den Stooges.
Frühjahr
1974, ich will jetzt wirklich nicht mehr „werden, was mein Alter ist“. West-Berlin.
Audi Max. Der Asta präsentiert „Ton Steine Scherben“. Meine große
Schwester und ich gucken zu, wie der KBW, oder war es eine andere Buchstabenabfolge,
aus ideologischen Gründen die Scherben-Anlage demontiert, damit sie nicht
spielen können. Sie trampelt gezielt auf den PA-Kabeln rum. Damit statt
getanzt diskutiert werden muss. (Ich bin wieder in Berlin zu Besuch.
Wir gehen damals immer in die Polizei-Kantine essen und auf den Abenteuer-Spielplatz
und wir flippern die halbe Nacht. Vormittags schlafe ich meinen Rausch aus und
entdecke nach dem Frühstück meine ersten dänischen Pornohefte
in der 200 Quadratmeter-WG. Ich werde erwachsen!). Außer Britzeln und
fernem Trommeln ist nichts zu hören. Aber ist das Rio, der da vorne blass
und fetthaarig herumstakst? (Fragt blass meine Erinnerung)
1975,
Westdeutschland. Neustadt am Rübenberge. Auf dem alten Klavier in
der „Teestube“ spiele ich Evergreens wie „Guten Morgen“ oder den „Rauch-Haus-Song“,
denn die stehen schon in der „Mundorgel“, oder nicht? Die Jugend aus dem Jugendtreff
singt kollektiv. Dazu Bier. Später vermehrt: Joint.
1975.
Inzwischen haben die Scherben sich schon vom Anspruch verabschiedet, „Volksmusik“
zu machen, sind von Berlin nach Fresenhagen (Nordfriesland) gezogen,
um Pferden ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Heino
und Roberto Blanco haben endgültig den Volksmusik-Part übernommen.
Nun sind die Scherben nur eine Land-WG, von der man nichts mehr hört, Rio
ist plötzlich schwul geworden und die Revolution hat irgend jemand klammheimlich
schon vor ein paar Jahren einfach so abgeblasen und „I’m gettin old“, denkt
irgendwann Neil Young und Rio praktizierts, das eigene Lebertöten.
1987.
In Göttingen erlebe ich nach einer längeren depressiven Phase
einen dritten mir auffälligeren manischen Schub, passend zum entdeckten
Krebs meiner Mutter und zum absurden Verlust einer großen Liebe und einer
Ein-Zimmer-Souterrain-Wohnung. Schön einbaubar (selbstmordgefährdet,
aber lustig) ist dabei der nicht ganz koschere, aber irrational auffassbare
Soundtrack von Rio Reisers erster Soloplatte.
1993:
Ich höre den Rauch-Haus-Song, gesungen von drei Teenagern in einem Göttinger
Linienbus an einem Samstag Abend.
Dann
Nirvana vielleicht noch und dann Kopf weggepustet. Und älter geworden.
Wollte
nur schnell noch sagen. Ton Steine Scherben waren immer irgendwie near to the
bone, oft auch viel zu near to the dogma-bone. Peinlich near to the bone. Kitschig
near. Aber Knochen-Arbeit jedenfalls war das von den Scherben, und immer street
credible, Bus-credible, Jugendzentrums-credible. Immer genauso falsch oder richtig,
wie die eng drin liegende Zeit, sensitiv und gefühlsecht und anschmiegsam
wie ein Kondom. Und Rio konnte Hits schreiben, dem Scherben-Gitarrist fielen
Riffs ein, Melodie und Slang und Wort und -Witz kamen immer da zusammen, wo
keine hochtrabend angeordnete Revolution, kein Paradies besungen, sondern Ungerechtigkeiten
wie Fahrpreiserhöhungen vokalisiert wurden.
Die
Scherben menschelten und die Menschen scherbelten. Kein deutscher Rocker hatte
das besser durch die ganzen 70er hindurch verstanden und begleitet. Aber diese
endsiebziger Zeit mit diesem unhörbaren Album TONSTEINESCHERBEN IV wollen
wir gerne überhören. Diese typische Platte, die Hippiebands, die sich
nicht als solche abfinden mochten, gemacht haben, als Punk ihnen gezeigt hatte,
wie langweilig sie geworden waren. Ein hypertrophes Gelalle und Gekrächz,
harmonisch und kompositorisch überfrachtet, dazu ganz schlimm sentimentale,
pseudodadaistische aber reichlich altmodisch-romantische Texte, wie sie mir
selber 1981 kaum schlechter eingefallen wären (und damals hätte man
mich nicht unbedingt kennen sollen!). Das Verscheiden der musikalischen APO
auf Vinyl. Vielleicht hatte diese deutsche Linke einfach nie die Kraft, die
sie hätte haben können, weil sie viel zu viel erklären wollte,
weil sie viel zu viele Eigenschaften ihrer Väter hatte: Ordnungssinn, Dogma,
Utopie.
Um
zu verstehen, dass diese Welt nicht funktioniert (und dass ich mich nicht darin
wohlfühlen kann), reicht(e) ein Sex-Pistols-Song. Die beiden anderen Alternativen
der Siebziger ist/war der politische Kampf, der sich an starre Regeln hielt
(der Kampf des einen linken Buchstaben gegen den anderen) oder der protestantische?
(jedenfalls christliche) Weg durch die Innerlichkeit und Selbsthinterfragung
und Sensibilisierung hindurch bis hin zur weitgehenden Depolitisierung - außer
Friedensbewegung und Anti-AKW. Gegen das kapitalistische System, also gegen
den Hauptgrund von Umweltzerstörung und Krieg zu sein, war bereits Ende
der Siebziger Tabu. Denn explizit antikapitalistisch zu sein, das war ja auch
eigentlich schon von der RAF okkupiert und durch sie tabuisiert worden. Dem
Rest blieb der lange Marsch durch schrittweises Preisgeben von Idealen, z.B.
bei den Grünen.
1990.
Rio, der in die PDS eintritt, als die DDR sich der BRD untergeordnet hat. Und
Rio, der gesundheitlich abtritt. Euthanasie im besten Sinne ist ja auch nur
Nächstenliebe. Jetzt ist er tot. Der Ton. Die Steine, Und Scherben überall.
Schon länger das. Aber das war nicht der Grund, weshalb ich hier anfing
zu lamentieren, denn ich wollte traktieren, warum es ein Theaterstück gibt,
das heißt: „König von Deutschland“.
Ich
gestehe, er hat mir was bedeutet. Aber halt, da bin ich ja schon der Propaganda-Maschinerie
vom Theater-Stück „König von Deutschland“ aufgesessen, die glauben
machen will, es wäre bei den Scherben nur um Rio gegangen. Wollte also
eigentlich sagen: Ton Steine Scherben haben mir was bedeutet. Als Mitte der
Achtziger mit der Power-Pop-Präsentation Rio I. aus Rio Mainstream wurde,
da waren ja schon andere besser gewesen, da hatten ja schon die Fehlfarben die
Scherben dekonstruiert, und erinnerten plötzlich wieder an den Protest
der Scherben-Gründerjahre, natürlich diesmal in Grau. Was bei den
Fehlfarben weg war, war der Scherben-Agitprop und das Schlimmere, der Kitsch
zu vieler Joints, was blieb, war die alte Bundesrepublik und die Unmöglichkeit,
darin ein richtiges Leben zu führen.
Wozu
also dieses Wort Silbe Phrasen? Zur DVD „König von Deutschland“, die ein
Zusammenschnitt ist aus einem Theaterstück vom Landestheater Württtemberg-Hohenzollern
Tübingen Reutlingen. Ein zusammengestückelter Film von Stefan
Paul, gefördert von der Filmförderung Baden-Württemberg. Schauspieler
spielen die Scherben und schauspielen Scherben-Musik und das, was man wohl für
deren Geschichte und legendentauglich hält. Dieses Stück, diese „Rio
Reiser Rockshow“ von Heiner Kondschak dürfte dann Rios restlicher Alptraum
sein. Und der Film dessen Best of. Best of Alptraum. Wer wirklich was über
Rio wissen will und sich für Musik interessiert, dem empfehle ich: Warum
geht es mir so dreckig? und Keine Macht für Niemand. Aber das
sind weder Bühnenstücke noch Filme, sondern Platten, auf denen Rio
selber singt und sich noch so anhört, als wäre er sauer. Undzwar wirklich.
Andreas
Thomas
Rio
Reiser - König von Deutschland
Ein
Film von Stefan Paul
Deutschland,
2005
Sprache:
Deutsch
Tonformat:
5.1 DD , 2.0 DD
Bildformat:
4:3
Laufzeit:
86 Minuten
DVD
bei Arsenal Film: 19,99EUR
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