Kolya
Prag für Touristen
Eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte aus Tschechien
Der "Oscar" für den besten nicht englischsprachigen Film sagt selten
etwas über die Qualität des ausgezeichneten Werks aus, viel jedoch
darüber, was sich amerikanische Auspreiser unter einem europäischen
Film vorstellen. Im letzten Jahr wurde das matriarchale Schollenepos
Antonias Welt prämiert, in diesem Jahr ist es der tschechische Film
Kolya von dem jungen Regietalent Jan Sverak. Jenseits der Grenzen der
tschechischen Republik ist Jan Sverak kaum bekannt, in seinem
Heimatland ist er einer der erfolgreichsten Jungregisseure. Tschechien
gehört zu den wenigen postsozialistischen Staaten, in denen die
einheimische Filmindustrie nicht durch die rigiden Marktstrategien
amerikanischer Filmkonzerne in die Knie gezwungen wurden, und es war
Sveraks Science-Fiction-Parodie mit dem schönen Titel Akkumulator 2,
die 1994 in den tschechischen Kinocharts die US-Konkurrenz auf die
Plätze verwies. Solche Erfolge am heimischen Kinomarkt sind
heldenhaft, aber Tschechien ist ein kleines Land, und das große Geld
läßt sich eben nur machen, wenn man für den internationalen Markt
produziert. Das erfordert Anpassungsprozesse und so erzählt Jan
Sveraks Film Kolya eine amerikanische Geschichte vor einer
tschechischen Kulisse in einer euro-kompatiblen Filmsprache.
Frantisek Louka ist ein hervorragender Cellist im Prag des Jahres
1988. Früher ging er mit dem Staatlichen Philharmonischen Orchester
auf Welttournee, jetzt spielt er mit löchrigen Socken bei
Beerdigungen. Frantisek ist ein Frauenheld. Der 55jährige Musiker
vergnügt sich bevorzugt mit verheirateten Damen, die seinen Status als
eiserenen Junggesellen nicht in Frage stellen. Die chronische Geldnot
treibt ihn dennoch vor den Traualtar. Eine Scheinheirat bringt der
russischen Braut die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und
Frantisek den ersehnten "Trabant". Man wartet auf den vorhersehbaren
Verlauf einer Greencard-Geschichte, daß aus der Zweckheirat nach
anfänglichen Kratzbürsteleien die Liebe fürs Leben wird, und wird
enttäuscht. Kurz nach der Heirat ist die russische Braut gen
Westdeutschland durchgebrannt, und Frantisek hat nicht nur die lästige
Staatssicherheit am Hals, sondern auch den fünfjährigen Sohn der
Emigrantin: Kolya. Wenig begeistert nimmt er den Kleinen, der kein
Wort Tschechisch spricht, auf.
Kolya läßt sich viel Zeit für die Annäherungen zwischen den beiden
und zeigt, wie aus dem verlotterten Junggesellen das wird, was der
Welt am meisten fehlt: ein verantwortungsvoller Vater.
Jan Sverak erzählt seine Geschichte, bei der sein Vater Zdanek Sverak
nicht nur die Hauptrolle, sondern auch das Drehbuchschreiben
übernommen hat, in sehr gefälligen Bildern. Prag ist die europäische Lieblingsstadt amerikanischer
Touristen, und Sverak liefert hier den Werbetrailer fürs
Fremdenverkehrsamt. Glatt und sanft schwenkt die Kamera in die Szenen
hinein, warme Brauntöne in Stuben und Straßen, Sonnenuntergänge vor
böhmischer Landschaft. Die Hauptfigur bewohnt ein romantisches
Turmzimmer, Tauben klopfen an die Fenster, dahinter der Blick über die
Dächer der historischen Moldaumetropole und dazu die Klänge von
Frantiseks Violoncello.
Trotz aller Anbiederungsversuche ist Kolya keine Schnulze im
Hollywood-Format geworden. Das liegt daran, daß Sverak sich trotz der
Sentmentalität seiner Vater/Sohn-Geschichte den Blick für Details
bewahrt hat. So z.B. wenn der forschende Blick des wirklich
herzallerliebsten Kolyas auf die Topographie von Frantiseks
Ohrläppchen fällt und die Kamera das in Großaufnahme wiedergibt. Kolya
packt die großen Gefühle in viele kleine aufmerksam beobachtete Szenen
und versucht sich dort, wo baugleiche US-Produktionen mit emotionaler
Wucht erobern wollen, in die Herzen des Publikums zu schleichen. Und
das nicht ohne Erfolg.
Martin Schwickert
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