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Komm
näher
Kampf aus dem Jammertal
Es gibt Momente, da sehnt man sich zurück zur
oft verdammten Spaßgesellschaft der 90er, als man noch nicht den Eindruck
hatte, Deutschland würde ausschließlich aus Sozialhilfeempfängern,
Niedriglohnarbeitern und kontaktgestörten Paranoikern bestehen, die in
dunklen, schimmligen und mies möblierten Altbauzimmern hausen.
Vanessa Jopps neuer Film fällt in eines der
derzeit nervigsten Genres des jungen deutschen Films - es ist ein Sozial- und
Beziehungsdrama geworden, voller Beschwerlichkeiten und grimmer Hoffnungslosigkeit.
Figuren begegnen sich nicht, sie kollidieren sprichwörtlich miteinander
oder kollabieren übereinander, keiner hat einen stabilen Stand in diesem
Leben (dazu passend wurde bei der obligatorischen DV-Kamera aufs Stativ verzichtet),
und wenn zwei Instabile versuchen, sich gegenseitig zu stützen, dann klappt
das natürlich auch nicht. Zudem fällt alles so schwer, jede Bewegung
strengt an, nichts will gelingen, irgendwas drückt oder ärgert immer,
alle fühlen sich von abstrakten Gewalten unter Druck oder unterdrückt,
deswegen tun sie sich erst gegenseitig weh und dann sich selbst. So weit, so
vorhersehbar.
Vanessa Jopps Qualität als Regisseurin muß
es sein (und ist es), dieses Genre zu transzendieren. Und tatsächlich:
Statt die immer gleichen "Alles scheiße"-Haltungen nachzustellen,
nimmt sie (und, wichtiger noch: auch ihre Schauspieler) ihre Figuren ernst als
reale Menschen mit tiefgreifenden Problemen. Paradoxerweise führt das bei
allem Low-Budget-Look dann zu beinahe episch anmutenden Szenen - einem langen,
erschütternden Zusammenbruch der erneut beeindruckenden Stefanie Stappenbeck
beispielsweise oder einer traurigen Komposition eines Ehepaares im morgendlichen
Gegenlicht. Wenn die verbalen Streitereien vorbei sind, kann der Film endlich
seine Stärken ausspielen, die in den wirklich tiefgreifenden Handlungen
stecken, die keiner oder nur weniger Worte bedürfen. In den Momenten, da
es gelingt, solche Konkretheit dem Zuschauer zu vermitteln - und es gelingt
nicht immer, aber überraschend oft - in solchen Augenblicken schafft "Komm
näher" es tatsächlich, anrührendes, bewegendes Kino der
gehobenen Klasse zu sein. Deprimierend an vielen Stellen, sicherlich, aber auch
immer wieder mit einem Schuß Galgenhumor, Hoffnung oder gar Selbsterkenntnis.
Aber erst müssen die Figuren von "Komm
näher" natürlich noch Bequemlichkeiten der Spaßgesellschaft
ausprobieren und für unausreichend befinden: Der Sex auf dem Behindertenklo
ist dröge und traurig. Radio und Fernsehen nerven mit Rentner-Grüßen,
die sogar den Sprecher langweilen, und Nachrichten, die sogar die Sprecherin
deprimieren. Selbst das gute alte Besäufnis, die letzte Bastion der bundesdeutschen
Belustigung, bietet nur kurzfristig Abwechslung von der miesen Stimmung im Land.
Statt dessen herrscht Konfrontation und Eskalation, keiner hört mehr zu,
und keiner kann mehr wirklich reden - bei solch harschen Vorgaben braucht man,
um nicht ins Gejammer abzurutschen, ein herausragendes Ensemble und ein grandioses
Drehbuch. Ersteres ist zweifelsfrei vorhanden, von dem herrlich verhuschten
Fritz Roth bis zur hinreißenden Meret Becker, die kämpferisch und
trotzig wie eh und je spielt, aber schon lange nicht mehr auch so charmant und
zerbrechlich sein durfte. Was das Drehbuch anbelangt, so schadet der halb-improvisatorische
Ansatz dem Film an einigen Stellen - eine Eskalation ist eben mehr als nur ein
gegenseitiges Niederschreien mit Nulltoleranz und immer größeren
Beschimpfungen, da kurven manche Dialoge beängstigend nah am Abgrund der
Unglaubwürdigkeit.
Glücklicherweise müssen aber weder die
Regisseurin noch ihre durchweg hervorragenden Schauspieler oder die Zuschauer
ewig im Jammertal herumirren - die Figuren entwickeln sich schließlich
oder ziehen doch wenigstens ihre persönlichen Konsequenzen aus den andauernden
Konflikten. Manche finden sogar ihren Humor wieder, erkennen sich und andere
und suchen endlich einen Weg aus der Misere. Und daß sowas noch geht,
das gibt doch Hoffnung.
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Schnitt
Komm
näher
D
2006. R: Vanessa Jopp. B: Stefan Schneider, Adrienne Bortoli. K: Rainer Klausmann.
S: Brigitta Tauchner. M: Loy Wesselburg. P: K5 Filmprod. D: Meret Becker, Stefanie
Stappenbeck, Marek Harloff, Fritz Roth u.a. 104 Min. Piffl ab 16.3.06
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