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Kurische
Nehrung
Der
Wind hat mir ein Lied erzählt
Tief
im Osten: Volker Koepps Doku "Kurische Nehrung"
Diesmal
heißt sie Renate. Renate ist eine dieser Frauen, von denen man manchmal
denkt, dass es sie nur in den Filmen von Volker Koepp gibt. Renate strahlt wie
ein Star. Aber Koepp macht ja Dokumentarfilme. Vielleicht ist das ja ganz einfach:
Vielleicht kann der Dokumentarfilmer Volker Koepp Renate - für sich und
uns - so aufmerksam und geduldig zuhören, wie es vielen von uns außerhalb
des Kinos nicht mehr gelingt.
Vielleicht
ist es aber auch die Landschaft. Wolkenwände, Licht, Wasser und Dünensand,
auf dem die Wolkenschatten als kleine Flecken wandern. Ostsee, ganz östlich.
Kurische Nehrung. Drei Einstellungen. Dann steht Renate am Ufer mit Kopftuch
und Mantel und erzählt von der Fischfabrik und davon, wie sie als elternloses
Kind herumgereicht wurde unter den Dörflern. Renate ist nur eine, die wichtigste,
von Koepps Protagonisten. Ein anderer, selbst Filmvorführer, brät
Teigfladen für Thomas Plenerts aufmerksame Kamera. Eine Kuh geht im Dorf
spazieren.
1971,
damals hatte er gerade die Filmhochschule in Babelsberg absolviert, war Volker
Koepp für die DEFA das erste Mal auf der schmalen Landzunge, die die Memelmündung
von der Ostsee trennt und selbst in zwei Staaten geteilt ist: "Grüße
aus Sarmatien" hieß der Film, ein Bobrowski-Porträt. Koepp ist
ein Filmemacher, der seinen Stoffen, seien es Landschaften oder Menschen, treu
bleibt. Sechs mal fuhr er nach Wittstock, oder öfter? Und auch in den Nordosten
kehrte er später zurück und machte daraus einen Film, dem es - fünfzig
Jahre nach Kriegsende - endlich gelang, unser Ostpreußen-Bild aus dem
Mief der Vertriebenenverbände zu entlüften. Die "Kalte Heimat"
war eine windzersauste Landschaft mit Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen
hier gestrandet waren. Und auch auf der heute russisch/litauischen Nehrung treffen
Nationalitäten und Sprachen aufeinander. Russen, Litauer, Deutschstämmige,
nur das Kurische ist weitgehend ausgestorben. Renate, die 1958 einen russischen
Matrosen geheiratet hat, gräbt für Koepp ein eigensinnig schönes
Deutsch aus. Boris isst Krautwickel und redet wenig, wie die meisten Männer
in Koepps Filmen. Doch wohl nicht nur deshalb ist die große Geschichte
nur am Rande Thema, eher das kleine Überleben. Die Grenze sehen wir nicht.
Dafür Vögel vieler Arten. Und das Essen: Himbeeren.
Renate
ist Rentnerin, kehrt mit dem Besen die Straße. Die gelbe Weste ist eigentlich
überflüssig, Autos sieht man keine. Das Leben ist hart, doch nicht
schlecht. Doch was ist schon ein schlechtes Leben? Die Menschen lächeln,
sie suchen nicht die Konflikte, sondern das Glück. Das eigene kleine Glück,
wie es der Filmvorführer sagt, dem die geliebte Arbeit abhanden gekommen
ist. Das seit neun Jahren verliebte Paar etwa, das sich nichts wünscht
als vielleicht ein zweites Kind. Doch die jungen Leute sind fort, dorthin, wo
es Arbeit gibt. Das Lächeln bleibt zurück. Und es ist fast das Schönste
an diesem Film: Der trotzige Optimismus, mit dem seine Heldinnen und Helden
dem Leben entgegentreten. Schönreden soll das nichts. Herr Zwilling, den
Koepp in seinem letzten Film zeigte, ist tot. Doch in Czernowitz wartet Frau
Zuckermann schon auf seinen nächsten Besuch. Und vielleicht strahlt ja
ein bisschen Renateglanz auch auf uns aus.
Silvia
Hallensleben
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: Der Tagesspiegel
Kurische
Nehrung
Deutschland
2001 - Regie: Volker Koepp - Darsteller: Dokumentation - Prädikat: besonders
wertvoll - Länge: 91 min. - Start: 2.8.2001
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