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La
Dolce Vita
Der
morbide Geschmack des Verfalls
„Das
erbärmlichste Leben in
Freiheit
ist besser als eine in dieser
Gesellschaftsordnung
verankerte
Existenz,
ein Leben, in dem alles
organisiert
ist, in dem alles festgelegt
ist.”
(Steiner zu Marcello)
Es
ist süß, dieses Leben, das in der Via Veneto sein Zentrum gefunden
zu haben scheint, in dem das Vergnügen zum Inbegriff des Lebens geworden
ist – süß, aber mit einem morbiden Beigeschmack, der sich kaum leugnen
lässt. Es ist ein Leben, das sich im Kreis dreht – von einem Cabaret zum
nächsten Nightclub, von einem scoop zur nächsten Sensation. Ein Leben,
das die Pressemeute bebildert und genüsslich kommentierend festhält,
als ob es darum gehe, Geschichte zu schreiben. Doch die Geschichten, die Marcello
Rubini (Marcello Mastroianni) und seine Paparazzi-Kollegen aufschreiben und
mit Fotos garnieren, haben keine längere Halbwertzeit als ein paar Tage.
Wie auch, denn was dort geschieht und sich in den Klatschspalten der römischen
Presse verbogen oder auch mal getreu wiederfindet, ist Ausdruck einer Art Inzucht
der römischen Schickeria, all jener Möchtegern-Künstler und -Intellektuellen,
verwöhnten und gelangweilten Reichen, deren Leben sich zwischen Bedeutungslosigkeit
und Sinnfreiheit abspielt.
Als
Marcello den Schriftsteller Steiner (Alain Cuny) nach langer Zeit in einer Kirche
wieder trifft, glaubt er in ihm ein Gegenbild all dessen gefunden zu haben,
einen Mann, der nachdenkt, der es zu etwas gebracht hat, der die Welt nicht
nimmt, wie sie ist, dem ein festgelegtes Leben ein Graus ist, einen Mann, der
mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern glücklich zu sein scheint.
Steiner – hat er nicht das, was Marcello immer sein wollte?
„Manchmal
bedrückt mich die
Nacht,
diese Dunkelheit, dieses
Schweigen.
Dieser Frieden macht
mir
Angst. Diesen Frieden fürchte
ich
mehr als alles andere. Ich habe
das
Gefühl, als wäre er ein Trugbild,
hinter
dem sich die Hölle versteckt.”
(Steiner
zu Marcello)
Und
Marcello? Er jagt hinterher – hinter den Frauen, den Sensationen der Via Veneto,
den Knüllern. Auf einer Party trifft er die reiche und schöne Maddalena
(Anouk Aimée), die sich langweilt, die ihn mitnimmt, mit der er bei einer
Prostituierten, die beide unterwegs treffen, eine Nacht verbringt, irgendwo
in den schmuddeligen, öden Außenbezirken Roms. Ober er wirklich mit
ihr geschlafen hat, weiß man nicht. Später wird Maddalena Marcello
fragen, ob er sie heiraten will. In einer Art Schloss spricht sie von einem
Raum aus durch eine Art Hörgang in einen anderen Raum, in dem Marcello
sitzt. Gleichzeitig lässt sie sich von einem anderen Mann verführen.
Nie würde Marcello mit ihr glücklich werden, denn sie liebe ihn, wolle
ihm treu sein, aber sie sei eben doch eine Hure, sagt Maddalena zu ihm.
Kaum
ist Maddalena in Marcellos Leben getreten, ist sie auch schon wieder weg – wie
ein Hauch, ein flüchtiger Wink. Dafür erscheint die Schauspielerin
Sylvia (Anita Ekberg), die üppige Blonde, die Diva, die sich am Flughafen
in all ihrer Pracht ablichten lässt, die sich badet im Blitzlicht der Papparazzi.
Sie verfolgt Marcello nun, die Treppen hinauf in den Petersdom, durch Rom hindurch,
bis er sie aus den Augen verliert und im Trevi-Brunnen wiederfindet. Dort steht
dieses erträumte Urbild einer Frau und Marcello bewundert sie, sucht in
dieser Frau jede Frau. Doch genauso abrupt wie mit Maddalena endet die Traumreise
mit Sylvia. Ihr Verlobter Robert (Lex Barker) schickt sie auf ihr Zimmer und
verpasst Marcello einen Kinnhaken.
Marcello
sucht nicht wirklich. Er vertreibt sich die Zeit. Seine Verlobte Emma (Yvonne
Furneaux), die Marcello liebt, ihn bei sich haben will, klammert, aus Verzweiflung
Tabletten schluckt, ihn verabscheut und sich dann wieder nach ihm sehnt, hat
keine Chance. Sie klammert sich an ein Bild wie sich Marcello an Bilder klammert.
Eine Welt der trügerischen und betrügerischen Bilder, die Fellini
– wie später übrigens ähnlich in „Satyricon”
(1969) – in einer Szenerie entfaltet, die so realistisch und doch gleichzeitig
so alptraumhaft wirkt.
„Ich
frage mich, was die Zukunft
meinen
Kindern bringen wird. Die
Welt
wird wunderbar sein, sagen sie.
Aber
wie kann sie wunderbar sein,
wenn
jemand nur auf einen Knopf
zu
drücken braucht, um sie in ein
Chaos
zu verwandeln.”
(Steiner
zu Marcello)
Es
sind die Zeichen, die diese Welt scheinbar zusammenhält, Zeichen, die auf
Verlust und Leere hindeuten. Die Religion hat längst ihre Macht verloren.
In der Anfangsszene transportiert ein Hubschrauber eine Jesus-Statue über
Rom, einen Jesus der freundlich lächelnd die Arme ausbreitet, einen Jesus
aber, der nicht mehr verankert ist. Als zwei Kinder behaupten, ihnen sei die
Madonna erschienen, sammeln sich Fernsehen, Paparazzi und fanatische Wundergläubige
an der Stelle, Lahme und Blinde folgen den Kindern zur Wunderwiese und zum Wunderbaum
– bis die ganze mediale Zeremonie im prasselnden Sommerregen ein Ende findet.
Bis zur Groteske steigert Fellini hier die Entwertung aller Werte. Die religiösen
Zeichen sind schon deutlich, und es spricht viel dafür, dass etwa die sieben
Todsünden (Zorn, Neid, Habsucht, Hochmut, Wollust, Völlerei und Trägheit)
zu den markanten Kennzeichen der Protagonisten des Films gehören. Aber
es geht Fellini wohl kaum um eine Renaissance der Religion, sondern eher um
die Weltfremdheit einer Welt, in der die Religion kaum noch eine Bedeutung hat,
ebenso zur Ware verkommt wie alles andere, eine Welt ohne Halt. Ein toter Fisch,
den Marcello und einige andere nach einer jener sinnlosen, kollabierenden Partys
am Schluss aus dem Meer ziehen, starrt aus seinen Augen und ist ebenfalls Symbol
für eine sterbende Welt. Ein vielleicht 13jähriges Mädchen, Paola
(Valeria Ciangottini), das Marcello beim Schreiben am Stand kennen gelernt hatte,
lächelt und winkt zu ihm herüber. Paola – die Unschuld, die Unberührte,
stellt noch Fragen, will wissen, doch Marcello versteht sie nicht.
Auch
das Treffen mit seinem Vater (Annibale Ninchi) gestaltet sich wie ein Alptraum.
Der Vater, den er nie richtig kennen gelernt hatte, weil er als Handlungsreisender
unterwegs war, will „etwas erleben” in Rom. Im Morgengrauen erleidet er einen
Schwächeanfall. Marcello bittet ihn, noch zu bleiben, aber sein Vater will
nach Hause – eine Episode im Leben Marcellos wie jede andere.
„Man
sollte fern aller Leidenschaft,
jenseits
aller Gefühle leben, in
jener
Harmonie, wie sie nur ein
vollendetes
Kunstwerk besitzt,
in
einer solchen verzauberten
Ordnung.
Man müsste so sehr lieben
können,
um außerhalb der Zeit
zu
leben, losgelöst, losgelöst.”
(Steiner
zu Marcello)
Und
selbst als Marcello erfährt, dass Steiner, der Intellektuelle, der Schriftsteller,
der die Dinge angeblich so ernst nimmt, seine beiden Kinder und dann sich selbst
getötet hat, ist er nur für den Moment erschüttert – auch ein
Ereignis, das einen Knüller abgibt – nicht mehr. Dabei hatte Steiner mehr
als deutlich gesprochen, wenn auch in einer intellektuell verbrämten Sprache,
wohin ein Leben führt, das Bedeutungslosigkeit und Sinnfreiheit zu seinem
Zentrum gemacht hat. Im Tod sah er die „verzauberte Ordnung”, das „losgelöste”
Dasein. Die Angst vor der Nacht, der Stille, der Dunkelheit, dem Frieden – das
war die Angst vor dem sinnhaften Tod eines sinnvollen Lebens. Insofern waren
Mord und Selbstmord nur Konsequenzen dieser Angst. Und Marcello, der Herumtreiber,
der Wandler zwischen den belanglosen, endlosen Partys und der sinnlosen Suche
nach der Frau aller Frauen, will davon nichts wissen, obwohl er die Angst Steiners
als Ursache seiner Taten erahnt.
Fellinis
„La Dolce Vita” erregte heftige Skandale. Doch die so deutliche Darstellung
der Dekadenz der römischen Schickeria ist nicht begleitet von herablassendem
Spott oder moralischer Verurteilung. Fellini visualisiert diese Dekadenz in
(fast) allen Einzelheiten, überlässt es aber dem Betrachter, Konsequenzen
zu ziehen.
Marcello
Mastroianni ist hier erstmals in einem Fellini-Film zu sehen, bevor er später
zu einer Art Alter ego des Regisseurs wurde. Seine fast schon passive Art zu
spielen passt sich hervorragend in diese Geschichte der Dekadenz ein. Anita
Ekberg, eine nicht gerade begnadete Schauspielerin, spielt sich selbst, was
der Rolle angemessen ist. Anouk Aimée ist bewundernswert wie fast immer.
In einer (ungewohnten) Nebenrolle spielt Lex Barker Anita Ekbergs Verlobten
als trunksüchtigen, vom Leben und Sylvia enttäuschten Amerikaner.
Yvonne Furneaux kann ebenfalls überzeugen als Frau, die sich von Marcello
nicht lösen kann.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
mehrere Texte
Das
süße Leben
(La
Dolce Vita)
Italien
1960, 174 Minuten
Regie:
Federico Fellini
Drehbuch:
Federico Fellini
Musik:
Nino Rota
Director
of Photography: Otello Martelli
Schnitt:
Leo Cattozo
Produktionsdesign:
Piero Gherardi
Darsteller:
Marcello Mastroianni (Marcello Rubini), Anita Ekberg (Sylvia), Anouk Aimée
(Maddalena), Yvonne Furneaux (Emma), Magali Noël (Fanny), Alain Cuny (Steiner),
Annibale Ninchi (Marcellos Vater), Walter Santesso (Paparazzo), Valeria Ciangottini
(Paola), Riccardo Garrone (Ricardo, Villenbesitzer), Lex Barker (Robert), Polidor
(Clown), Alain Dijon (Frankie Stout), Adriana Moneta (Ninni, Prostituierte)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0053779
©
Ulrich Behrens 2004
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