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Lagaan
Inhalt:
Im
viktorianischen Indien leidet die bescheiden lebende Bevölkerung einer
von der Agrarwirtschaft geprägten Provinz unter den hohen Getreidesteuern,
die sie an ihre britischen Herrscher abgeben müssen. Als der sadistische
Captain Russel beschließt, dass die Menschen in seinem Gebiet von nun
an die zweifache Menge an Steuern (genannt "lagaan") an ihn zu entrichten
haben, sieht eines der Dörfer unter der Führung des charismatischen
Bhuvan nur einen Ausweg. Sie lassen sich auf eine von Briten höhnisch initiierte
Wette ein: Wenn sie es schaffen, die Engländer im Cricket - einem ihnen
fast unbekannten Spiel - zu besiegen, dann sind sie für insgesamt drei
Jahre von der Steuer befreit. Schaffen sie es jedoch nicht, zahlen sie die dreifache
Menge.
Kritik:
Wenn
man Leuten sagt, dass man ins Kino geht, und man ihnen, nachdem sie mit dem
Titel Lagaan
- Once Upon A Time In India
rein gar nichts anzufangen wissen, kurz zusammenfasst, worum es in dem Streifen
geht, und dabei natürlich auch erwähnt, dass der Film Teil der indischen
"Bollywood"-Produktionen ist, grob gesehen ins Genre der Musicals
gehört, und knapp vier Stunden dauert, dann hat man meist schon jede Chance
verspielt, noch jemanden als Begleitung zu gewinnen. Zu groß sind die
Vorurteile, die man gegenüber den angeblich äußerst grellen,
kitschigen, orgiastischen, trivial und sentimental angelegten, opernhaft übersteigerten
Filmen aus Bombay hat. Hätte ich jedoch Lagaan
bereits gesehen gehabt, bevor ich erwähnte, dass ich ihn im Kino sehen
werde, hätte ich damit argumentieren können, dass er ein Film ist,
so äußerst "westlich", wie ihn Hollywood heute kaum noch
macht. Dass sich dieses Epos so viel vom Ursprünglichen seines Mediums
bewahrt hat, dass es vielen Zuschauern schon wieder komisch vorkommen dürfte.
Bei jenen jedoch weiß man dann schon nicht mehr so recht, warum sie überhaupt
ins Kino gehen.
Lagaan
ist ein in jeder Hinsicht klassischer Film. Pures Kino von reinster Größe
und liebenswertem Eskapismus. Wir bekommen in Ashutosh Gowarikers Film genau
das, was wir uns vorstellen, wenn wir über die Grundwerte des Kinos nachdenken:
Die Protagonisten, die wir lieben, mit denen wir zittern, lachen und weinen,
die Antagonisten, die wir hassen, denen wir Unglück wünschen und über
deren Pech wir uns diebisch freuen können. Mehr und mehr hat sich gerade
das amerikanische Großkino, welches jene Grundsätze ursprünglich
einmal in seinen großen Epen prägte, von diesen entfernt. Heute spürt
man immer, wie versucht wird, charismatische "Bösewichte" darzustellen,
und gleichzeitig "Antihelden" anzubieten, bei deren Unterstützung
wir uns eigentlich schämen sollten. Nichts spricht gegen diese Form des
Filmemachens; im Gegenteil: Wohl jeder dieser Filme ist psychologisch komplexer
und hat mehr Tiefgang als ihn Lagaan
in seinen ganzen 224 Minuten je erreichen würde. Während letztgenannte
Filme allerdings oft in der Luft hängen bleiben, ihnen das Herz und der
Mut zur großen Konsequenz fehlen, so weiß dieses indische Epos genau,
was es will, und erreicht sein allem übergeordnetes Ziel von der absoluten,
überlangen Unterhaltung seiner Zuschauer mühelos und auf einem Weg,
der Lagaan
als einen perfekten Film qualifiziert.
Der
Film gliedert sich handlungstechnisch grob gesehen in zwei große Abschnitte:
Die Vorbereitungen auf das Spiel und die Rekrutierung der Mitspieler bei der
Dorfbevölkerung, und das Spiel an sich, das sich etwa über eine Stunde
erstreckt. Daraus lässt sich bereits ablesen, dass die Synopsis sich als
äußerst schlicht und oft gesehen erweist. Hinzu kommt, dass wirklich
jeder Schritt der Handlung vorhersehbar ist, dass wir fast immer genau wissen,
was als nächstes passieren wird. Wer dies allerdings als einen ernst gemeinten
Kritikpunkt meint vorweisen zu können, der betrügt sich selbst. Denn
schon in der antiken griechischen Tragödie war der Ausgang der Werke immer
vorherbestimmt, war bereits nach kürzester Zeit absehbar, wie sich das
Ende gestalten wird. Dennoch wurden die Werke gelesen und gesehen und man erfreute
sich an der reinen "Genialität der Weggestaltung". Ebenso ergeht
es Lagaan,
denn obwohl alles vorhersehbar scheint, evoziert der Film eine derartige Spannung
(gerade in seiner letzten Stunde), dass die Menschen in der Vorstellung, bei
der ich zugegen war, regelrecht fieberhaft das finale Cricket-Spiel verfolgten,
dessen Ausgang uns doch allen nur zu bekannt ist. Das ging sogar soweit, dass
es im Publikum bei jedem wichtigen Punkt der indischen Mannschaft überbordende
Jubelstürme gab, und jeder Fauxpas der Engländer hämisch belacht
wurde. Gleichzeitig wurden grobe und schmerzhafte Fehler der Inder stets mit
einem durchs Publikum gehenden Raunen und dem leisen Hervorzischen von "Mist!"
und "Oh, nein!" begleitet und selbst wenn man wie ich absolut nichts
von Cricket versteht, so konnte man dem Spielverlauf problemlos folgen und wusste
stets ganz genau, wo die entscheidenden Momente lagen, denn so sehr schwappten
die blanken Emotionen, die puren Bilder von Verzweiflung, Kampf, ungebändigtem
Siegeswillen und Triumph von der Leinwand über. Man fühlte sich zuweilen
tatsächlich mehr wie bei einer Sportveranstaltung, als denn in einem Kinosaal.
Aber eines wird hieraus ganz ersichtlich und jedem klar: Wenn ein Film es schafft,
dass er sein Publikum in Sorge um die Helden der Geschichte förmlich aus
den Sitzen reißt, dann hat er Großes - vielleicht sogar das Größte
- geleistet.
Zurückzuführen
ist diese ungeheure Sympathie, die wir für die Helden aus Lagaan
empfinden, darauf, dass sich Gowariker immerhin fast drei Stunden Zeit nimmt,
sie und ihren harten Kampf ums nackte Überleben, das sich an diesem einen
Spiel festmacht, dem Zuschauer so nahe zu bringen, dass sich ihr Schicksal immer
fester in unser Herz einbrennt, dass wir auf einmal an ihnen hängen, wie
an einem bisher unbekannten Menschen, dessen Freund wir jedoch binnen von einigen
Stunden geworden sind. Ashutosh Gowariker verlässt sich bei diesem "Näherbringen"
ganz allein auf die bewährten Grundfesten des Kinos und auf das völlig
Althergebrachte. Es ist jedoch das Privileg des "Bollywood"-Films,
dass diese eigentlich so konventionellen und bekannten Elemente (sei es nun
eine fatalistische Liebesgeschichte unter drei Parteien, die "Bekehrung"
eines Verräters aus den eigenen Reihen oder die Vereinigung ehemaliger
Feinde) derart überhöht werden, dass sie uns auf einmal wieder neu,
"unamerikanisch" vorkommen. Dieses Konzept völliger Schamlosigkeit
im Umgang mit dem Bekannten bewahrt sich Lagaan
auch bei der Anlegung und der Zeichnung seiner Charaktere: Die große Riege
der Protagonisten, unter deren eigenwilligen und liebenswerten Köpfen quasi
ein jeder seine Identifikationsfigur finden kann, kreist um Bhuvan (Aamir Khan,
gleichzeitig auch Produzent des Films und der Superstar in Indien), einen jungen,
nicht unumstrittenen Mann, da er es letztlich war, der die als hoffnungslos
erscheinende Wette mit den Briten angenommen hat. Bhuvan ist ein urtypischer
Heros: Feurig, leidenschaftlich und kämpferisch, gleichzeitig aber auch
ausgestattet mit dem Sympathiebonus des ob seiner Waghalsigkeit Ausgestoßenen,
des Alleinstehenden, der nun versuchen muss, Mitstreiter im Kampf um seine Sache
zu gewinnen. Heftig umworben wird Bhuvan von der traditionsbewussten, hübschen
und sich rührend aufopfernden Gauri (Gracy Singh), die sich größte
Hoffnungen macht, Bhuvan zu ehelichen. Allerdings werden diese Hoffnungen jäh
in ihre Schranken gewiesen, als ausgerechnet die bildschöne Schwester von
Bhuvans Erzfeind, dem britischen Captain Russel, auftaucht, um den Dorfbewohnern
beim Erlernen des Cricket-Spiels zu helfen. Natürlich ergreifen Gauri der
Neid und sogar die Ansätze von Hass auf die schöne "White Lady".
Gerade
bei der Schilderung dieser unvermeidlichen Dreiecksbeziehung lässt Lagaan
keine Situation übergroßer Gefühle aus: Von Liebesversprechungen
vor dem Sonnenuntergang, unter dem Sternenzelt und auf Bergeshöhen, bis
hin zu sehnsüchtigen Solotänzen durch den britischen Palast seitens
Russels Schwester Elizabeth fehlt es nirgendwo an grenzenlosem Pathos. Das Faszinierende
und auch so ungemein Erfreuliche ist jedoch, dass Lagaan
zu diesem brachialen Gefühlsangriff, dieser grenzenlosen Übersteigerung
der Romantik bis ins kleinste Detail absolut steht. Gleichzeitig bettet er sie
("Bollywood"-typisch) ein in gesanglich wie tänzerisch furioseste
Musicalnummern, die auch schon den kitschnächsten Hollywood-Filmen den
"Schrecken" nahmen, und ihnen Magie und Selbstverständlichkeit
im Umgang mit Pathos zutrugen. Gerade diese Szenen sind einer der schönsten
Beweise für die handwerkliche Perfektion mit der Lagaan
hergestellt wurde: Es sind wilde Rausche von Farben und purem Bombast, eingefangen
von einer sich frei und schnell bewegenden Kamera, ausgestattet mit einem schon
fast unverschämten Gespür für Schauwerte und große Bilder.
Die stark perkussionsorientierte Musik von A.R. Rahman donnert den wilden Tänzen
den Rhythmus vor, regt hierbei quasi zum Mitmachen an, gibt der Montage den
Takt an und unterstreicht die elementaren Momente der Handlung mit einem stets
passenden, immer opulenten, aber nie aufdringlichen Einwurf. Gleichermaßen
beeindruckend gestaltet sich hierbei auch Gowarikers Inszenierungsstil: Ein
geborener Filmemacher ist hier am Werk, das spürt man schon am perfekten
Timing mit dem Lagaan
angelegt ist. Stets weiß sein Regisseur, wann das Publikum "mitfiebern"
möchte, wann es über derart groß angelegte, aber nie über
betonte Einstellungen staunen möchte, wann es sich den ausladenden Tanznummern
vollständig und rein "schauenderweise" hingeben möchte,
oder aber wann es nach stillen, nachdenklichen Szenen dürstet, in denen
die Denkweisen der Dorfbewohner und ihr Verhältnis untereinander beleuchtet
wird, ja, in denen Lagaan
zuweilen sogar eine politische Dimension hinzugewinnt, die sich auf die Unmenschlichkeit
des Kastensystems bezieht. Und vielleicht liegt hierin ja auch schon die Quintessenz
von Lagaan:
Dass es ein Film von einem ganz genau "wissenden" Regisseur ist. Ein
Film, der sich seiner Sache absolut sicher ist, und ihr mit vollem Herzen und
vollem Eifer nachgeht: Nämlich, den Zuschauer nach vier Stunden herrlichster
Kino-Magie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen in die Wirklichkeit
unseres Lebens zurückzuführen - nachdem wir einen wunderschönen
Abend lang mal wieder ganz woanders waren. Dies ist einer der besten Filme des
Jahres.
Janis
El-Bira
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt es im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Lagaan
(Lagaan:
Once Upon a Time in India, 2001)
Regie:
Ashutosh Gowariker
Premiere:
15. Juni 2001 (Indien)
Drehbuch:
Ashutosh Gowariker, Kumar Dave, Sanjay Dayma & K.P. Saxena
Dt.
Start: 20. Juni 2002
Land:
Indien
Länge:
224 min
Darsteller:
Aamir
Khan (Bhuvan), Gracy Singh (Gauri), Rachel Shelley (Elizabeth Russell), Paul
Blackthorne (Captain Andrew Russell), Suhasini Mulay (Yashodamai), Kulbhushan
Kharbanda (Rajah Puran Singh), Raghuvir Yadav (Bhura), Rajendra Gupta (Mukhiya),
Rajesh Vivek (Guran), Shri Vallabh Vyas (Ishwar), Javed Khan (Ram Singh), Raj
Zutshi (Ismail), Akhilendra Mishra (Arjan), Pradeep Rawat (Deva), Daya Shankar
Pandey (Goli)
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