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La
Niña Santa
Mit ihrem zweiten Spielfilm, „La Niña Santa“,
etabliert sich die Argentinierin Lucrecia Martel als eine neue, wichtige Stimme
des internationalen Autorenfilms.
Es gibt Filme, die erinnern an
Situationen, an Orte, an Menschen, die man selber kennt. Andere erinnern an
andere Filme. Und dann gibt wieder solche, die erzeugen ein beinahe unheimliches
Deja-Vu, in dem sie eine unbewusst vertraute Stimmung plötzlich benennbar
machen, als Cassavetes-Blues, Bergman-Beklemmung oder Fassbinder-Verwundbarkeit.
Die Argentinierin Lucrecia Martel hat gerade mal zwei Filme gedreht: Diese beiden
aber gehören zu jener letzten Sorte, die mit atmosphärischer Handschrift
unbekannt-bekannte Saiten anschlagen.
Schon ihr Debüt, „La Ciènaga“ („Der Sumpf“), eine Gesellschaftsparabel,
die 2001, auf dem Höhepunkt der argentinischen Wirtschaftskrise, international
für Aufsehen sorgte, zielte weniger auf den Kopf, als auf das Einfühlungsvermögen
des Körpers. Martel zeigte eine Großfamilie, die sich vor einer zivilen
Katastrophe auf ihren baufälligen Landsitz zurückgezogen hatte. In
der feuchten Hitze gleichförmiger Tage hingen da beschwipste Frauen, fettleibige
Männer, und sadistisch veranlagte Kinder träg am Rand eines Pools,
über dessen brackigem Wasser die Fliegen surrten. Mittags schon schlürfte
man Cocktails, während frisches Wasser weit und breit nicht in Sicht war:
Dekadenz kollidierte mit Mangel, Sattheit mit Hunger, und hinterließ beim
Zusehen ein schmerzhaftes Gefühl von Selbstaufgabe.
Vielleicht gehen einem Martels
Filme auch deshalb so nahe, weil in ihnen die gewohnte emotionale Hilfestellung
fehlt – keine Musik, keine Psychologisierung –, vor allem aber, weil sie abseits
üblicher Moralvorstellungen handeln: So erzählt ihre neue Arbeit „La
Niña Santa“ („Das Heilige Mädchen“) von der halbwüchsigen Amalia
(María Alche), die sich in einer Mischung aus erotischer und katholischer
Romantisierung ausersehen glaubt, einen Pädophilen zu erlösen, indem
sie sich ihm hingibt. Dr. Jano (Carlos Belloso) heißt der Mann mit den
fischartigen Lippen, der sich in einer Menschenansammlung von hinten an sie
presst und in diesem Moment vom Jäger zum Gejagten wird. Als Teilnehmer
eines Ärztekongresses untergebracht im Hotel von Amalias Mutter, wird er
dem Mädchen zwangsläufig noch öfter begegnen, auf den Gängen,
im Aufzug oder in den Dämpfen des Thermalwasserpools, wo er ihre auffordernden
Blicke als Anklage missversteht. Zugleich macht aber auch Amalias Mutter (Mercedes
Morán), eine charismatische, rot gelockte Witwe, dem verheirateten Jano,
ohne von seiner Neigung zu ahnen, sanft aber bestimmt ihre Avancen.
Hotel und Pool, erbaut im Kolonialstil,
haben ihre feudalen Tage hinter sich. Öffentliche, zugleich intime Räume,
scheinen sie die Spielregeln der Gesellschaft außer Kraft zu setzen. In
der so kondensierten Atmosphäre entsteht ein begehrlicher Reigen, ähnlich
dem in Ingmar Bergmans alptraumhaften Hoteldrama „Tystnaden“ („Das
Schweigen“,
1963).
Doch wo Bergman die Psychosen
in der Kargheit von Zimmern und Fluren widerhallen und uns von außen in
ein Labyrinth aus Zellen blicken ließ, zieht einen Martel mit sense-surround-Mitteln
in das schwüle Klima des Raums hinein: Mal rauscht und gurgelt es gedämpft
von links, als hätte man Wasser im Ohr. Dann surrt ein unsichtbares Insekt
aus dem Off. Kleine visuelle Irritationen, wie der Lichtblitz, der über
Amalias Gesicht fährt, als Jano sie erstmals berührt: Nur ein Sonnenreflex,
oder die ersehnte Erleuchtung?
Auch die Körper der Figuren
scheinen mit dem Raum zu verschmelzen, halb von diesem absorbiert, wenn ihre
Gesichter durch Türspalten lugen oder aus dem Blau des Beckens ragen. Am Schluss jedenfalls
steht allen das Wasser bis zum Halse: Amalia, die sich mit ihrer Freundin im
Becken treiben lässt. Und auch Dr. Jano. Der nämlich hat vor versammelter
Kollegschaft alles andere zu erwarten als die wundersame Erlösung.
Maya McKechneay
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: Falter, Wien
La
Niña Santa
Argentinien, Italien, Niederlanden, Spanien 2004
Regie: Lucrecia Martel
Drehbuch: Juan Pablo Domenech, Lucrecia Martel
Kamera: Félix Monti
Schnitt: Santiago
Ricci
Produktion: Lita Stantic
Musik: Andres Gerzenson
Laufzeit: 106 Minuten
Genre: Drama
Darsteller:
Mercedes Morán - Helena
Carlos Belloso - Dr. Jano
Alejandro Urdapilleta - Freddy
María Alche - Amalia
Julieta Zylberberg - Josefina
Mía Maestro - Inés
Marta Lubos - Mirta
Arturo Goetz - Dr. Vesalio
Alejo Mango - Dr. Cuesta
Mónica Villa - Madre de Josefina
und andere...
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