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Leben!
„Leben!”
ist ein einfacher Titel, aber dahinter versteckt sich ein ganzes Universum.
Der Film folgt dem Leben einer chinesischen Familie von den berauschenden Zeiten
der Spielhöllen in den 40er Jahren bis zu den Entbehrungen der Kulturrevolution
in den 60ern. Und während all dieser Schicksalskämpfe und politischen
Umwälzungen, die sie erdulden müssen, lässt sich ihre ganze Hoffnung
in einem Zitat der Protagonistin zusammenfassen, einer Ehefrau, die ihren Besitz,
ihre Position und ihre Kinder verliert und seufzt: „Ich will doch nichts weiter,
als in Ruhe ein gemeinsames Leben zu führen.“
Regie
führte bei diesem Film Zhang Yimou, der derzeit Chinas führender Filmemacher
ist (obwohl sich die Regierung in Peking von diesem Film angegriffen fühlte
und Zhang mit einem zweijährigen Berufsverbot belegte). Die Hauptrolle
wird von seiner Ehefrau Gong Li gespielt, die ebenfalls Berufsverbot erhielt.
Zusammen haben sie bereits „Ju Dou“, „Rote Laterne“ und „Die Geschichte der
Qui Ju“ gedreht, und wie diese Filme folgt auch „Leben!“ dem Schicksal einer
starken Frau. Nur gibt es dieses Mal auch einen manchmal ebenso starken Mann
an ihrer Seite, und irgendwie halten die beiden durch eine Reihe schrecklicher
Schicksalsschläge aneinander fest.
Anfangs
ist der Ehemann selbst schuld an den Familienproblemen. Fugui (Ge You) ist ein
krankhafter Spieler, der beim Würfeln das Haus seiner Familie und alle
Ersparnisse verliert. „Du Auswurf einer Kröte!“, brüllt ihn sein Vater
an und verprügelt ihn mit dem Stock. Seine Frau Jiazhen (Gong Li) will
nichts mehr mit ihm zu tun haben, und so findet er sich nach einem Leben im
Überfluss plötzlich als Straßenhändler wieder, der Nähzeug
verkauft.
Der
Mann, der ihm das Haus beim Würfelspiel abgenommen hat, gibt ihm einen
Satz hübscher Schattenspielpuppen, und so zieht Fugui als fahrender Künstler
los, nur um kurz darauf von der Nationalarmee aufgelesen zu werden, deren Truppen
er mit seinem Puppenspiel unterhält. Als er eines Tages betrunken den Truppenrückzug
verschläft und erst vom donnernden Geräusch der Kanonen im Schnee
geweckt wird, entdeckt er die Rote Armee auf dem Vormarsch. Anpassungsfähig
wie er ist, schließt er sich eben dieser Streitmacht an und findet so
schließlich seinen Weg zurück in sein Heimatdorf, zu seiner Frau
und seinen Kindern.
Das
Leben unter dem kommunistischen Regime ist hart, aber man überlebt. (Ironischerweise
wird der Mann, der das Haus der Familie beim Würfeln gewonnen hatte, als
konterrevolutionärer Landbesitzer hingerichtet.) Eine Kinderkrankheit lässt
die Tochter dann taubstumm werden, aber in perfekter Verkupplungsmathematik
findet man trotzdem eine Ehemann für sie: Einen hinkenden Fabrikaufseher
der Rotgardisten.
Die
Geschichte der Familie schreitet voran in kleinen, vorübergehenden Verbesserungen
und großen, grausamen Schicksalsschlägen. Einer davon wird von einem
Arzt ausgelöst, der ihnen in einer kritischen Situation nicht beistehen
kann, weil er völlig ausgehungert sieben Brötchen gestohlen und verschlungen
hatte und dafür von der Roten Armee festgenommen und eingekerkert worden
war. Ein anderer tragischer Verlust in der Familie wird von einem alten Freund
verursacht, der daraufhin schwört, dass er der Familie sein eigenes Leben
schuldet – eine Schuld, die er später auch begleichen muss. So kommen und
gehen die Jahre. Farbenfrohe Wandmalereien von Mao Tse Tung erscheinen auf den
Mauern des Hofs und verblassen dann wieder durch Sonne und Regen. Und irgendwie
lebt man.
Man
sagt, die beste Kunst würde aus dem Chaos geboren, aus den harten Zeiten.
In China gab es jahrzehntelang keine ernsthafte Filmkunst, und nun drängen
große Filmwerke in Scharen aus diesem Land. Die Regierung ist nicht immer
glücklich darüber, dass die Vergangenheit des Landes mit solcher Ehrlichkeit
thematisiert wird, und Filme wie „Leben!“ oder „Der blaue Drache“, der ebenfalls
dieses Jahr in Amerika startete, teilen ein unausweichliches Schicksal: Sie
werden gedreht, dann auf ausländischen Filmfestivals gezeigt, dort mit
Auszeichnungen bedacht („Leben!“ bekam einen Darstellerpreis in Cannes), laufen
für eine kurze Zeit in einigen ausgesuchten Kinos in Peking oder Shanghai
und verschwinden dann wieder.
Die
Ehrlichkeit ihres Films brachte Zhang Yimou und Gong Li nicht nur ein zweijähriges
Berufsverbot, sondern auch das Verbot, sich über den eigenen Film öffentlich
zu äußern. Aber immerhin: „Leben!“ wurde gedreht, er wird auf der
ganzen Welt gezeigt und existiert auf der Leinwand als faszinierendes Zeugnis
einfachster Menschen unter grässlichen Bedingungen, unter denen das Schicksal
des Einzelnen abhängig ist von einer zufälligen Bemerkung oder einer
plötzlichen politischen Verordnung eines pflichteifrigen Jugendlichen.
„Leben!“
ist ein starkes, energetisches Werk eines Filmemachers, dessen Vision vier Jahrzehnte
der Geschichte seines Landes umfasst. Zhang Yimou lässt sich von keiner
aktuellen politischen Strömung vereinnahmen, sondern registriert, dass
überall auf der Welt die einfachen Menschen eigentlich nur das wollen,
was die Protagonistin erfleht: Ein einfaches, ruhiges Leben. Es ist aufregend,
solche neuen Filme aus China zu sehen, sie schreiben nicht nur Geschichte, sie
feiern und betrauern sie zugleich.
Roger
Ebert
mit freundlicher Genehmigung des
Autors, aus dem Englischen übersetzt von Daniel Bickermann
Dieser
Text ist zuerst erschienen am 23.12.1994, im Original zu lesen bei: www.rogerebert.com
[
http://rogerebert.suntimes.com/apps/pbcs.dll/article?AID=/19941223/REVIEWS/412230303/1023 ]
Leben!
HUOZHE
Hongkong
/ VR China - 1994 - 132 min. - Erstaufführung: 28.7.1994/20.2.1995 Video/7.12.1995
premiere
Regie:
Zhang Yimou
Buch:
Yu Hua, Lu Wei
Vorlage:
nach einem Roman von Yu Hua
Kamera:
Lu Yue
Musik:
Zhao Jiping
Schnitt:
Du Yuan
Darsteller:
Ge
You (Fugui)
Gong
Li (Jiazhen)
Niu
Ben (Stadtoberhaupt)
Guo
Tao (Chunsheng)
Jiang
Wu (Er Xi)
Ni
Da Hong (Long Er)
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