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Der
Lebensversicherer
Ein irres Kichern hallt durch das Dunkel nach dem
Vorspann. Dann schwacher Lichtschein, seifige Gischt klatscht an ein Autofenster.
Dazu rotieren nassschwarze Walzen an den Scheiben. Es ist, als hätte sich
ein Riesenschlund aufgetan, um das blecherne Gehäuse zu zermalmen – und
den Mann, der darin hockt. Für kindliche Gemüter sind Waschstraßen
Geisterbahnen. Hier sitzt das Gespenst im Wagen. Herr Wagner ist ein trauriger
Geist, der ständig im Auto unterwegs ist, ein Versicherungsvertreter, noch
jung, aber schon schrecklich müde. Er zählt nicht Stunden oder Tage,
sondern unterschriebene Formulare: 54 Lebensversicherungs-Policen muss er noch
unters Volk bringen, 54 Mal seine Provision einstreichen, damit er sich das
ewige Hin und Her als Überholspur-Nomade schenken kann und endlich heimkehren
darf zu Frau und Kind. Sie soll seine „Abschiedstournee“ sein, die Kundensuche
entlang der Schnellstraße, während der Wagner ein Caravan-Pärchen
versichert, einen genervten Toilettenmann am Arbeitsplatz verfolgt und einem
Brummifahrer diabolische Ratschläge für einen fingierten Unfalltod
erteilt. Womöglich erwägt der Vertreter sie auch für sich, die
ultimative Lösung zugunsten der Lieben zuhause. Ist nicht auch er zum Ahasver
der Autobahn geworden, zum Zapfsäulenzombie, der sich dem „Fliegenden Holländer“
gleich „ewige Vernichtung“ wünscht und bestimmt nicht zufällig Wagner
heißt?
Er schippert durchs nächtliche Lichtermeer,
sucht Halt auf Raststätten, Tankstellen, Parkplätzen und in Telefonzellen,
von denen aus er zu seiner Ehefrau spricht, wobei lange unklar bleibt, ob am
anderen Ende der Leitung überhaupt jemand zuhört. Manchmal lauscht
Wagner auch nur dem eigenen, befremdlichen Lachen, wenn er allein im schützend-beengenden
Panzer seines Wagens sitzt, dem Büro und Hauptwohnsitz des Vertreters.
Es sind banale Orte, an denen Bülent Akinci seine Parabel vom lebensunsicheren
„Lebensversicherer“ entfaltet. Der Protagonist aber ist Kunstfigur, ein handlungsreisender
Jedermann, Stellvertreter für all jene, die einsam sind, die irgendwo ankommen
wollen und es doch nie so richtig schaffen. Die Hölle – das sind wir selber.
Für Wagner scheinen eher Bühnen- denn Kinofiguren Pate gestanden zu
haben. Und dementsprechend verkörpert das Theatertier Jens Harzer ihn auch:
ohne Furcht vor dem überlebensgroßen Ausdruck, als oft beredt schweigendes,
dann wieder Worthülsen spuckendes Wesen, ein Irrlicht, das sich selbst
nicht fassen kann und im wahrsten Wortsinn vielfach neben sich steht. Das ohnehin
kaleidoskopisch und diskontinuierlich strukturierte Nachtstück lässt
den Solisten häufig Blicke auf sich selbst werfen – vergleichbar dem Zeitreisenden
am Ende von „2001
– Odyssee im Weltraum“ (fd 15 732).
Meistens erzeugt Akinci diese Selbstbeobachtung mittels beiläufiger Jump
Cuts; einmal wird der egozentrische Blickwechsel zum filmischen Schocktraum:
Da starrt Wagner von der Telefonzelle aus auf einen Wagen, der frontal auf ihn
zurast. Kein anderer als er selbst sitzt darin. Doch Todes- und Liebessehnsucht
halten sich lange die Waage: Sein Überlebenselixier ist der Duft der Frauen,
als Sprühnebelsurrogat aus einer Chanel-Flasche. Dann weht doch ein leibhaftig
liebenswertes Geschöpf in den Film. Die schöne Spröde namens
Carolin verlockt Wagner, eine Nacht in ihrer „Pension“ zu verbringen. Es folgen
Szenen der Annäherung: stockende Gespräche, Umarmungen, Sex. Akinci
lässt den Zuschauer das Paar mit Skepsis beobachten, wie er seinen „Nachtfaltern“
überhaupt mit wohltuend kitschferner Distanz begegnet. In den neonflimmernden
Nachtszenen gemahnt diese Haltung mehr als einmal an die präzise komponierten
Bildwelten Edward Hoppers, wozu die Kameraführung von Henner Besuch maßgeblich
beiträgt. Ans Drehbuch seines dffb-Abschlussfilms hätte sich Bülent
Akinci jedoch nicht im Alleingang machen sollen. Abgesehen von diversen Plattitüden
in den Dialogen überfrachtet eine Reihe prätentiöser Episoden
den Film, der andererseits allzu spurtreu vom rasenden Stillstand berichtet,
ohne der Figur die eine oder andere dramaturgische Kurve zu gönnen. Um
das Defizit an Charakterentwicklung auszugleichen, bauscht Akinci den familiären
Hintergrund seines Helden zum Rätsel auf, dessen Lösung sich weder
als stimmig noch als aufregend erweist. Auch in der Geisterbahn kann es zwischendrin
etwas langweilig werden.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: film-dienst
Der
Lebensversicherer
Deutschland
2006 - Regie: Bülent Akinci - Darsteller: Jens Harzer, Marina Galic, Anna
Maria Mühe, Hussi Kutlucan, Mehdi Nebbou, Christian Blümel, Tom Jahn,
Oliver Marlo, Eva Mannschott, Birgit Funke, Patrizia Moresco - FSK: ab 12 -
Länge: 97 min. - Start: 7.12.2006
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