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Lemming
Das
doppelte Lottchen
Bürgerschrecken
nach Zahlen: Dominik Molls überambitionierte, unterrealisierte Thriller-Groteske
„Lemming“ phantasiert gewissen- und formelhaft vom Zerbröseln einer Spießeridylle.
Zu
Beginn ist der Notfall nur ein Testmanöver. In einem aseptischen Modell-Badezimmer
löst ein Laborassistent mit beflissener Miene einen Rohrbruch aus. Es folgt
die Demonstration des neuesten Hi-Tech-Gimmicks von Ingenieur Alain Getty (Laurent
Lucas): einer ferngesteuerten Propeller-Webcam, mit deren Hilfe man noch vom
Urlaubsort aus daheim nach dem Rechten sehen und notfalls eine Reparatur dirigieren
kann.
So
viel besessene Blick-Kontrolle kann im Kino auf die Dauer nicht gut gehen, und
deshalb wird in den folgenden zwei Stunden Film das wohlgeordnete Leben des
aufstrebenden Jungspießers Alain und seiner adretten Gattin Bénédicte
(Charlotte Gainsbourg) gründlich durcheinander geraten. Wie so oft im Märchen
oder im Lynch-Film beginnt alles mit einer harmlosen Überschreitung (nämlich
zwischen Berufs- und Privatleben): Alains Chef Richard (André Dussollier)
ist mit Gemahlin Alice zum Abendessen eingeladen. Doch statt launigen Beisammenseins
zu dezenter Klassikberieselung gibt es harte Worte von der verhärmten Alice
(Charlotte Rampling) über die Treue ihres Gatten. Der entpuppt sich bald
tatsächlich als soziopathischer Schürzenjäger, während Alice
immer gewaltsamer in das frisch bezogene Haus und die Turteltauben-Ehe der Gettys
eindringt. Schon bald kann Alain in dieser Komödie der bösen Überraschungen
weder seiner Frau noch seinen eigenen Wahrnehmungen trauen.
Die
wichtigsten Referenzen für das gepflegten Bürgerschreck-Kino des Dominik
Moll („Harry meint es gut mit dir“) sind nicht schwer auszumachen: Mit David
Lynch teilt Moll eine puritanisch-pubertäre Vorstellung von Sex als schwülem
Verhängnis, mit Claude Chabrol eine sarkastische Hingabe zu bürgerlichen
Umgangsformen und anderen Verlogenheiten. Mit allen beiden verbindet ihn ein
ausgesprochenes Unbehagen an moderner bürgerlicher Architektur und Inneneinrichtung
– und leider mit keinem auch nur ansatzweise der filmische Einfallsreichtum.
Irgendwo in der Schwebe zwischen maliziöser Analyse und dröhnendem
Surrealismus, bleibt „Lemming“ (trotz eines starken Vierer-Ensembles in den
Hauptrollen) ein bemerkenswert biederer, blasser Film über Kontroll- und
Realitätsverlust.
Auch
das ausgeklügelte Netz an Symmetrien und Verdoppelungen, das Moll aufspannt,
wirkt irgendwann nur mehr wie eine besonders pedantische Form, über die
psychosexuellen Abenteuer der Gettys Buch zu führen: Keine Szene ohne bedeutungsschwangere
Spiegelung, kein Charakter ohne düsteres Double. Sogar die Vornamens-Gleichheit
der beiden fabelhaften Charlotten Rampling und Gainsbourg scheint ein kalkulierter
Teil dieses Systems zu sein.
Letztendlich
ist „Lemming“ selbst so ein detailgenauer, unheimlicher Doppelgänger –
zu Michael Hanekes zeitgleich entwickeltem „Caché“.
Wo dort mit dem Irrationalen die französische Kolonialgeschichte in einen
selbstzufriedenen Bürgerhaushalt einbrach, so ist hier der einzige geheimnisvolle
Fremdling der Titel gebende skandinavische Nager, den Alain einmal in einem
verstopften Abfluss findet. Besser lässt sich das Gefälle zwischen
diesen beiden Filmen wohl gar nicht auf den Punkt bringen.
Joachim
Schätz
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: falter (Wien), www.falter.at
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
mehrere Texte
Lemming
Frankreich 2005 - Regie: Dominik
Moll - Darsteller: Charlotte Rampling, Charlotte Gainsbourg, André Dussollier,
Laurent Lucas, Michel Cassagne, Jacques Bonnaffé, Véronique Affholder,
Michel Cassagne, Florence Desille - FSK: ab 12 - Länge: 129 min. - Start:
13.7.2006
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