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L’enfant
Beobachten, nicht
verstehen
"L´enfant - Das Kind" von Jean-Pierre
und Luc Dardenne zeigt die belgischen Regisseure als Meister sowohl der einfachen
Filmsprache als auch des unsentimentalen Mitgefühls
Das Industriestädtchen Seraing ist ein vertrauter
Anblick in den Filmen von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Seit ihren ersten Dokumentarfilmen
in den Siebziger Jahren dient die Heimatstadt der Dardenne-Brüder als Schauplatz
einiger der ergreifendsten menschlichen Dramen im europäischen Autorenfilm.
Die Fabrikschlote, die grauen Häuserfassaden, die tristen Straßenzüge,
denen es entschieden an Charakter mangelt: Seraing ist ein Niemandsort, tausendmal
gesehen, anonym, eine perfekte Projektionsfläche für alles, was im
Kapitalismus in den letzten 30 Jahren schief gelaufen ist. In Rosetta zum Beispiel muss die titelgebende Hauptfigur mit
Gewalt von ihrem Arbeitsplatz entfernt werden, nachdem ihre Stelle einfach wegrationalisiert
wurde. Oder Roger, der in La
Promesse heruntergekommene Zimmer
zu Wucherpreisen an illegale Immigranten vermietet. In den Protagonisten der
Dardenne-Filme spiegelt sich die Verrohung der existierenden Gesellschaftsformen.
Doch wie irrational oder zweifelhaft die Handlungen der Protagonisten auch sein
mögen, nie sind sie Täter, immer nur Opfer der Verhältnisse.
Denn sie verfügen über keine Alternativen. Es bleibt ihnen nichts
anderes übrig, als sich mit ihren eingeschränkten Handlungsoptionen
zu arrangieren.
So kommt Das
Kind, der neue Film von Jean-Pierre
und Luc Dardenne, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, zu seiner
eindrücklichsten Szene: Die 18-jährige Sonia versucht mit ihrem neugeborenen
Baby im Arm, eine stark befahrene, vierspurige Straße zu überqueren.
Das Unterfangen scheint so gefährlich wie vergeblich, aber der Gedanke,
einen anderen Weg zu finden, kommt ihr anscheinend nicht. Ihre Schutzlosigkeit
ist nahezu ikonisch für die Filme der Dardennes, und trotzdem fungiert
diese Szene lediglich als einer dieser kurzen snapshots, mit denen die Regisseure die Leben ihrer Figuren
so trefflich festhalten. Bloß ein weiterer Moment der Ausgrenzung und
Erniedrigung.
Sonia und Bruno sind die Hauptfiguren in Das Kind.
Sie leben von ihrer Sozialhilfe und seinen Diebestouren. Geld und Waren gehen
in rasantem Tempo durch Brunos Hände, nichts bleibt lange bei ihm. Alles
ist Warenwert, ein geringer noch dazu. Als Sonia mit ihrem wenige Tage alten
Baby, Jimmy, aus dem Krankenhaus nach Haus zurückkehrt, steht sie vor verschlossenen
Türen. Bruno hat die gemeinsame Wohnung in ihrer Abwesenheit untervermietet
und sie und das Baby vorübergehend im Obdachlosenheim einquartiert. Jérémie
Renier spielt Bruno wie einen Schlafwandler, an dem das Leben folgenlos vorüberzieht.
Seinen Sohn beachtet er kaum, viel begeisterter ist er über seine neuerworbene
Poser-Jacke, sauteuer, versteht sich, von der er später noch ein zweites
Exemplar für Sonia ersteht. Für Jimmy hat er einen nagelneuen Kinderwagen
besorgt, doch das Cabrio, das er für einen Kurzausflug gemietet hat, interessiert
ihn mehr. Als Sonia ihm ins Ohr flüstert, dass sie gerne mit ihm schlafen
würde, hat er am anderen Ohr schon wieder das Handy, um neue Hehlerware
auf den Weg zu bringen.
Dabei ist Bruno gar nicht mal unsympathisch, es mangelt
ihm bloß an einem moralischen Werteverständnis. Aber das hält
ihm niemand vor, am wenigsten die Dardenne-Brüder. Auch nicht als er auf
die Idee kommt, Jimmy zu verkaufen. Es ist leicht verdientes Geld, und man kann
ja sofort ein neues Kind machen. Die einzelnen Schritte der Transaktion laufen
wie automatisiert ab, als wäre es das Normalste der Welt. Ein Telefonat,
ein Treffpunkt, und ehe Bruno sich versieht, kauert er in einem dunklen Raum
und wartet darauf, dass im Nachbarzimmer sein Sohn von einem Fremden abgeholt
wird. Die Routine der Prozedur ist erschütternd. Sonias Reaktion auf die
Nachricht kann Bruno zunächst nicht verstehen. Überwältigt von
Schmerz bricht sie zusammen und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Nur langsam begreift Bruno die Tragweite seiner Tat. Er will sich in Wiedergutmachung
üben, doch von den wenigen Handlungsoptionen, die einem wie ihm bleiben,
wählt er immer die falschen.
Den Dardenne-Brüdern ist nicht so sehr an emblematischen
Bildern gelegen. Mit ihren Filmen haben sie in den neunziger Jahren eine fantastisch
reduktionistische Bildersprache entwickelt. Eine singuläre Stimme im europäischen
Kino, die eine ganze Schule geprägt hat, von Bruno Dumont (L´Humanité) bis Angela Schanelec (Plätze
in Städten): aus unmittelbarer
Nähe, in langen, ruhelosen Einstellungen, bilden ihre Filme ab, ohne zu
intervenieren. Ihre Kamera sucht nicht, sie findet vor. Die Prägung der
Dardennes durch den Dokumentarfilm (ihr Frühwerk beschäftigt sich
fast ausnahmslos mit genuin "linken" Themen: Arbeiterklasse, Gewerkschaften,
Résistance) hat unverkennbare Spuren hinterlassen. Die Kamera baut eine
respektvolle Distanz auf und ist doch immer dran an den Menschen, in ihrem Schmerz
und ihrer Hilflosigkeit.
Der Respekt gegenüber ihren Figuren zeigt sich
in der Geduldigkeit des Abbildens und dem Gefühl der Echtzeit, das die
Filme der Dardenne-Brüder entwickeln. Jeder unnötige Schnitt, jede
Bildmontage, die Partialisierung der erlebten Zeit, würde die innere Einheit
des Erlebnis-/Erfahrungsraumes, wie sie die Filmemacher des Cinema Direct in
den sechziger Jahren gepredigt haben, kompromittieren. Zeit ist eine kritische
Ressource im Realismusverständnis der Dardenne-Brüder. Manchmal lassen
sie ihre Darsteller auch bis zur Erschöpfung proben, bis alle Manierismen
und Methoden aus ihrem Spiel verschwunden sind. Authentizität ist für
sie kein Readymade-Zustand, sondern harte Arbeit. (Hier liegt das Missverständnis
vieler Kritiker, die ihre Filme bloß als improvisiert verstehen.) Und
weil Jean-Pierre und Luc Dardenne das in ihren Filmen so unmissverständlich
vorführen, sind ihre Filme durchaus politisch in einem ganz grundlegenden
Sinne: nicht als Sozialkritik, sondern als filmische Praxis. Selbst die einzige
"Actionszene" des Films, eine lange Verfolgungsjagd, in der Bruno
auf einem Motorroller einem Zeugen zu entkommen versucht, wird unter diesen
Bedingungen zu einer existenziellen Tour de Force.
Nach zwei Filmen über Einzelpersonen wollten
sie diesmal einen Film über eine zwischenmenschliche Beziehung drehen,
haben Jean-Pierre und Luc über Das
Kind gesagt. Doch es ist wieder keine
simple Charakterstudie geworden. Der Psychologie des filmischen Apparats trauen
sie dafür nicht genug über den Weg. Auf Musik haben sie wie immer
ganz verzichtet. Man muss die Filme der Brüder Dardenne als Angebot an
den Zuschauer verstehen. Wir sollen diese Menschen nicht verstehen, nur sehr
genau beobachten. Im schmerzvollen Moment der Erkenntnis lassen Jean-Pierre
und Luc Dardenne den Zuschauer schließlich mit Sonia und Bruno allein
zurück. In einer letzten, unendlich langen Einstellung.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Freitag
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
L'enfant
Frankreich / Belgien 2005 - Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc
Dardenne - Darsteller: Jérémie Renier, Déborah François,
Jérémie Segard, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione - Prädikat:
besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 95 min. - Start: 17.11.2005
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