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L'enfant
Nur nicht ins Loch
fallen
Bruno (Jérémie Renier) steht unter
Strom, immer in Bewegung, immer auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit
für ein kleines "Geschäft", einen Handtaschenraub, einen
Autoaufbruch, ein Betteln auf der Straße. Aus seinem Durchkommen zieht
der clevere Kerl sein stupendes Selbstbewusstsein, großspurig sagt er
einmal: "Geld finde ich immer, das muss ich nicht aufheben."
Er sagt auch, dass ein regelmäßiger Job
etwas für Spießer, für "Arschlöcher" sei. Bruno
besitzt eine teure Markenjacke, die man kaufen muss, die man nicht klauen kann.
Wenn er zur Arbeit geht, zieht er diese Jacke aus und eine schmuddelige Trainingsjacke
an. Mit seinem schweinsledernen Hut wirkt Bruno cool und sexy. Die achtzehnjährige
Sonia (Déborah François) ist Brunos Charme erlegen, gerade hat
sie ein Kind von ihm bekommen. Als sie mit dem Säugling aus dem Krankenhaus
entlassen wird, findet sie ihre Wohnung "untervermietet" - Bruno übernachtet
in einem Nachtasyl, wo sich sicher auch für Sonia ein Plätzchen finden
lasse. Bruno meint das nicht böse, er hat den Kopf nur gerade woanders.
Für seinen Sohn hat er keinen Blick, will nur
den Namen wissen, aber schon ein Körperkontakt überfordert ihn. Lieber
wickelt er seine Geschäfte ab, verkauft das Diebesgut an seine Hehlerin.
Die ist es, die sich nach Kind und Freundin erkundigt und Bruno den Tipp gibt,
dass, falls es Schwierigkeiten gäbe, man es verkaufen könne. Diesbezügliche
Nachfrage herrsche zuverlässig. Doch jetzt hat Bruno ja wieder Geld. Er
mietet ein Cabrio, kauft einen teuren Kinderwagen und holt Sonia mit großer
Geste aus dem Obdachlosenasyl ab. Das Paar verbringt einen sehr verliebten und
unbeschwerten Tag miteinander. Dennoch dringt Sonia darauf, das Kind offiziell
anzumelden. Doch die lange Schlange vor dem Eingang des Amts trübt Brunos
Stimmung, Sonia schlägt ihm vor, doch mit dem Kinderwagen eine Runde zu
drehen. Nachdem er kurz erfolglos gebettelt hat, kommt ihm spontan eine Idee:
Er ruft seine Hehlerin an und verabredet einen Übergabeort in einer Garagenreihe
- und plötzlich hält Bruno 5000 Euro in den Händen. Ein tolles
Geschäft, denn Kinder, so sein Schluss, kann man ja immer wieder neu machen.
Als "L’enfant", der Film der Regiebrüder
Jean-Pierre und Luc Dardenne im Mai mit der "Goldenen Palme" in Cannes
ausgezeichnet wurde, stand das Skandalon des Kindesverkaufs im Raum. Man muss
wissen, dass seit "La
Promesse" (1996) alle Spielfilme
der Dardennes in Seraing, einer trostlosen Industriestadt bei Lüttich,
spielen. Es ist eine Gegend, die den Übergang von der traditionellen Stahlindustrie
in die moderne Dienstleistungsgesellschaft nicht geschafft hat. Soziale Sicherungssysteme
haben sich aufgelöst und die belgische Gesellschaft in eine schwere Identitätskrise
gestürzt. "L"enfant" registriert nun die Existenz von Strukturen,
die für die Option, sein Kind in klingende Münze zu verwandeln, bereit
stehen.
Man kann das skandalös finden, aber solche Alarmiertheit
ist nicht das Anliegen der Filmemacher. In Interviews haben sich die Dardennes
stets dagegen verwehrt, in die "Schublade der sozial Engagierten"
gesteckt zu werden. Provokant formulieren sie ihre Neugier: "Obwohl wir
aus bürgerlichen Verhältnissen stammen, lieben wir Menschen, die sich
ohne Netz am Abgrund entlangbewegen. Wir bewundern diese Figuren, auch wenn
sie sich nicht an unseren Moralkodex halten. Sie sind unkontrollierter und in
gewisser Weise auch freier, haben mehr Zukunft." Das klingt aufreizend
sozialromantisch, in der Rede von der "Zukunft" aber auch pessimistisch,
wenn denn einer Schicht, die fern jeder Moral existiert, die Zukunft gehören
sollte. Vielleicht sollte man zunächst einmal die Neugier der Filmemacher
teilen und das Verhalten von Menschen beobachten, die so "überflüssig"
geworden sind wie die Städte, in denen sie leben.
Jean-Pierre und Luc Dardenne bewegen sich mit ihrer
Kamera stets auf Augenhöhe mit ihren Figuren, registrieren Bewegungen,
die für sich stehen und weder Thesen belegen noch Verantwortlichkeiten
benennen wollen. Sie blicken nicht auf die Welt, die sie zeigen - mitleidig
oder hochmütig - herab, sondern begeben sich auf eine Entdeckungsreise.
Sie erklären nichts, sondern sie zeigen es. Das unterscheidet ihre Filme
vom sozialkritischen Kino eines Ken Loach, in dem die Figuren noch die Möglichkeit
des bewussten Handelns besitzen, die sie vielleicht nur entdecken müssen.
Die Geschichte von Bruno, Sonia und Jimmy geht aber
noch weiter. Sonia reagiert auf Brunos Tat, auf den Zusammenbruch der Weltordnung
wie eine kleistsche Figur: Sie fällt in Ohnmacht. Im Krankenhaus zeigt
sie Bruno an, dessen Leben jetzt zu einer Schussfahrt ins Nichts wird. Die Polizei
bedrängt ihn, die Kinderhändler geben das Kind nur ungern wieder her
und erpressen Bruno. Ein Überfall geht schief. Nur mit Mühe rettet
sich Bruno schließlich ins Ziel und gibt seine vormals behauptete "Freiheit"
auf. In einer der eindringlichsten Szenen, die das Kino in diesem Jahr zu bieten
hat, begegnen sich Bruno und Sonia ein weiteres Mal - im Besuchsraum des Gefängnisses.
Zweimal, als er sich erschöpft der Polizei stellt und im Verlauf der Begegnung
mit Sonia, offenbart Bruno wortlos eine Form von natürlicher Moral. Er
übernimmt Verantwortung und steigt aus dem Getriebensein aus. Klänge
es nicht zynisch, müsste man feststellen: den Liebenden in Zeiten der Auflösung
des Sozialen ist das Gefängnis eine Struktur, die Halt gewährt. In
den Filmen der Brüder Dardenne ist dies ein Hoffnungsschimmer.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: Stuttgarter Zeitung Online
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
L'enfant
Frankreich / Belgien 2005 - Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc
Dardenne - Darsteller: Jérémie Renier, Déborah François,
Jérémie Segard, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione - Prädikat:
besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 95 min. - Start: 17.11.2005
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