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L’enfant
Ästhetik der
Konfrontation
Eine junge Frau, mit schreiendem Baby im Arm, steigt
eine enge Treppe hoch, sperrt eine Tür auf, findet diese aber durch die
innen vorgehängte Kette blockiert: Ein Typ und eine Frau, halbnackt, bescheiden
ihr kurz und knapp, Bruno habe ihnen die Wohnung für ein paar Tage vermietet,
die Tür wird zugeschlagen. Die junge Frau klopft und tritt gegen die Tür,
schreit laut, verlangt, daß man ihr das Aufladegerät für ihr
Handy herausgibt, die Tür geht nochmal kurz auf, das Aufladegerät
wird herausgeworfen.
Schroffe Wirklichkeit
Ein abrupter Einstieg, der bereits einen direkten
Eindruck von der Ästhetik der unvermittelten Konfrontation gibt, der die
belgischen Dardenne-Brüder auch in ihrem neuen Film "L'enfant"
folgen. Dem Zuschauer wird nicht viel erklärt, er bekommt nur etwas zu
sehen: mit Handkamera, nah dran am Geschehen, in wenigen Schnitten, heftig und
impulsiv agierende Personen, rauhe, schroffe Wirklichkeit am sozialen Rand der
Gesellschaft.
Die Situation, mit der der Film beginnt, muss man
sich so zurechtlegen: Sonja, die junge Frau, kommt aus dem Krankenhaus, wo sie
ihr Kind auf die Welt gebracht hat, und will in ihre Wohnung. Bruno, ihr Freund,
der Vater des Kindes, hat diese jedoch für die Zeit der Entbindung weitervermietet.
Als Zuschauer hat man nun gar nicht viel Muße,
sich über diesen Bruno zu entrüsten oder die junge Mutter zu bedauern,
die nun erstmal dazu verurteilt ist, mit ihrem Säugling auf der Straße
herumzuziehen, denn die Szenen folgen mit einer enormen physischen Dichte aufeinander,
die alle Aufmerksamkeit an sich bindet.
Sonja begibt sich nun auf die Suche nach Bruno. Wir
sehen sie beim Überqueren einer Ausfallstraße, eine dieser ungeschnittenen
Einstellungen, die so lange dauert, wie es tatsächlich notwendig ist zu
warten, um auf dieser stark befahrenen Straße auf die andere Seite zu
kommen. An einem Ort zwischen der Straße und dem Kanal, den wir später
als Versteck Brunos kennen lernen werden und wo sie ihn nun vermutet, trifft
sie ihn jedoch nicht an. Darauf sehen wir sie, wie sie mitgenommen wird von
einem Bekannten auf dem Moped, in die Nähe eines Bistrots, wo Bruno gerade
zwischen an einer roten Ampel wartenden Autos von den Fahrern Kleingeld erbettelt.
Für Sonja und das Kind, das er noch gar nicht gesehen hat (er hat sie also
nach der Niederkunft gar nicht im Krankenhaus besucht), hat er vorerst nicht
viel Aufmerksamkeit übrig, er ist damit befaßt, das Opfer eines nächsten
Diebstahls zu beobachten und dessen Bewegungen an einen Komplizen über
Handy weiterzugeben.
Ein großer
Junge
Damit haben wir ihn also vor uns, Bruno, und werden
ihn für den Rest des Films nicht mehr aus den Augen verlieren. Ein unbekümmert
wirkender Bursche, ein großer Junge (das titelgebende Kind des Films,
wie die Dardenne-Brüder selbst sagen), der alles als nie aufhörendes
Spiel versteht, insbesondere seine Deals und Gaunereien. "Arbeiten, das
ist was für die Arschlöcher" und "Ich komm immer an Geld,
das wär Blödsinn, welches zurückzulegen", das sind seine
Maximen. Seine Gesten und Handgriffe scheinen mühelos ineinanderzugreifen,
er hantiert mit Handy, Zigaretten, Geldscheinen, Diebesgut und Hehlerware, die
er mit seinen minderjährigen Komplizen beschafft und weiterverkauft. Auch
für Sonja und das Kind hat er dann vor allem großspurige und naive
Gesten übrig: den Kauf der gleichen Motorradjacke, wie er sie hat, für
Sonja, das Ausleihen eines Sportwagens für eine gemeinsame Spritztour und
den Kauf eines Kinderwagens, für den das wichtigste Auswahlkriterium ist,
daß sein Aufsatz auf die schmale Rückbank des Sportwagens paßt.
Und irgendwie läßt sich das alles ganz
gut an: Ausgelassen und fröhlich balgt er immer wieder mit Sonja herum;
nach einer Nacht im Obdachlosenheim, wobei Bruno, der ruhe- und rastlose, das
gemietete Nachtlager im Schlafsaal nach einem Handyanruf seiner Hehlerin gar
nicht nutzt, können sie auch wieder in Sonjas Wohnung. Zu den Dingen, mit
denen Bruno und Sonja nun permanent hantieren, gehört eben auch der Kinderwagen,
mit dem Kind darin. Und einmal, während Sonja in der langen Schlange am
einzigen geöffneten Schalter des Sozialamtes wartet, geht Bruno derweil
spazieren, mit dem Kind im Kinderwagen. Erst mal unbekümmert Leute anschnorren
– mit Kinderwagen ist das womöglich lohnender –, um sich das nötige
Kleingeld für ein frisches Päckchen Zigaretten zu besorgen, und dann
meldet sich auch schon wieder das Handy.
Die böse Wendung
der Dinge
Und nun nimmt ein Geschehen
seinen Gang, das
einer von selbst ablaufenden Mechanik
zu folgen scheint. Der Anruf der Hehlerin, die auf scheinbar unbedeutende Gesprächsteile
einige Szenen zuvor Bezug nimmt und jetzt mit Bruno einen besonderen Deal perfekt
macht. Man muss alles allein aus den knappen Erwiderungen Brunos am Telefon
erschließen und vor allem aus den folgenden, rein äußerlich
geschilderten Aktionen, nein, nicht einmal Aktionen, sondern einfach Bewegungen,
Gänge durch die Straßen der Stadt, eine Busfahrt in ein anderes Viertel,
das Betreten eines Wohnblocks, der nicht funktionierende Lift, das Herausnehmen
des Kindes aus dem Kinderwagen, das Betreten einer leeren Wohnung, eines Zimmers
darin, in dem Bruno das Kind auf seine Jacke bettet, der Rückzug Brunos
in ein Nebenzimmer, das Schließen der Tür, ein Telefonat, beklemmende
Minuten des Wartens, Geräusche auf dem Flur, wieder zurück in das
erste Zimmer, anstatt des Kindes liegt hier nun ein Bündel Geldscheine.
Ja, Bruno hat das Kind verkauft.
Diese gespenstisch lakonische Sequenz veranschaulicht
noch einmal aufs Konsequenteste die filmische Vorgehensweise der Dardenne-Brüder,
sich auf eine neutrale Außenperspektive zu beschränken und nichts
mit übergeordneten Begriffen zu erklären. Der sich ergebende Handlungszusammenhang
folgt dabei einer scheinbar zwanglosen, sich aber äußerst zwingend
fügenden, Logik. Es geht hier nicht um sogenannte Sachzwänge, sondern
um eine brutale Gewalt der Zusammenhänge von Handlungen in genau bestimmten
Lebenskontexten, auch wenn die handelnden Figuren meinen, ihr Spiel (oder was
sie für ein solches halten) souverän im Griff zu haben.
Auf dem Rückweg – mit dem leeren Kinderwagen
nun, der von außen natürlich nicht anders ausschaut als vorher –
scheint bei Bruno noch alles beim Alten zu sein, vor allem, als er zu Sonja
entschuldigend sagt, daß er gedacht hätte, man könnte ja jederzeit
noch ein Kind machen. Diese Aussage, naiv und zynisch zugleich in ihrer Arglosigkeit
und Klarsicht bei der unwillkürlichen Benennung der ökonomischen Zusammenhänge
von Produktion und Reproduktion, entgeistert Sonja so sehr, daß sie ohnmächtig
umfällt.
Damit beginnt der zweite, in seiner Dramaturgie nicht
minder eng gefügte Teil des Films, in dem sich nun alles gegen Bruno zu
wenden scheint. Der Versuch, den Verkauf rückgängig zu machen, führt
Bruno in die Abhängigkeit von Gangstern, die gewohnt sind, eine Nummer
größer als er zu agieren; Sonja will nichts mehr von ihm wissen;
sogar die kleinen Deals mit seinem Komplizen Steve wollen nicht mehr recht von
der Hand gehen und scheitern in einer eindringlichen Szenenfolge auf banal-jämmerliche
Art. Brunos Gängen durch die Straßen haftet nun eine düstere
Vergeblichkeit an. Vorbei die Unbekümmertheit, mit der er die Umstände
spielerisch zu beherrschen schien.
Eine Geschichte
der Erlösung
Daß sich in diesem Gang der Dinge aber der
eigentliche Weg zu Brunos Errettung aus der Verstrickung seines Lebens auftut,
das kommt erst am Ende im Gefängnis heraus. Mit diesem Ende stellen die
Dardenne-Brüder dann auch ihren Film bewußt in eine prominente Traditionslinie
des neueren Kinos: "L'enfant" erweist sich nämlich als jüngste
Variante der "Schuld und Sühne"-Adaptionen, wie sie mit Robert
Bressons "Pickpocket" (1959), Paul Schraders "American Gigolo"
(1980) und "Light Sleeper" (1992) sowie Aki Kaurismäkis "Rikos
ja rangaistus" (Crime and Punishment, 1983) vorliegen. Alle diese Filme
münden in die emblematische Schlußszene, in der die Heldin (bei den
Dardenne-Brüdern heißt sie tatsächlich genauso wie im Dostojewskij-Roman
Sonja) den Helden im Gefängnis besucht. In "L'enfant" kommt es
hier zur Entbindung der angestauten, unterdrückten Emotion, zur Lösung
des Affektstaus, den die strikt eingehaltene Außenperspektive der Darstellung
auf geradezu schmerzhafte Weise abbildete.
Letztlich handelt es sich bei "L'enfant"
also um ein stringentes "morality tale", dessen "plot" von
der Besserung seines in die Irre gegangenen Helden erzählt. Die transzendentalen
bis religiösen Implikationen, die in diesem Stoff liegen, werden in "L'enfant"
restlos aufgesogen von der physischen Dichte der schauspielerischen Leistungen
und der Kameraarbeit und Montage. Man hat es hier gewissermaßen mit einem
reinen action-Film zu tun, bei dem sich das Moralische konsequent als Resultante
aus dem Materiellen ergibt. Und genau das bezeichnet die Stärke und ungeheure
Wucht dieses Films: Er degradiert die physische Realität, die er mit größter
Intensität zeigt, nicht zum Material der Veranschaulichung von Thesen.
Es beharrt alles auf seinem Eigensinn als widerständiger Wirklichkeit,
einschließlich der Figuren mit ihrem Starrsinn.
Was der Film vorrangig also nicht ist: ein von sozialkritischem
Engagement getragenes Dokudrama, das Anklage erheben möchte gegen die Auswirkungen
neoliberaler Zurüstungen für eine angeblich bessere Zukunft. Man kann
den Film natürlich als Illustration für entsprechende Tendenzen heranziehen,
denn die Dardenne-Brüder nehmen wie in ihren bisherigen Filmen auch diese
von der Politik miterzeugte soziale Realität äußerst ernst und
greifen die damit verbundenen Themen auf; sie nehmen diese Verhältnisse
so ernst, daß sie sie zum Ausgangspunkt von ergreifenden und nichts beschönigenden
oder verklärenden Dramen machen. Und sie schaffen es mit ihrer filmischen
Ästhetik dabei vor allem, den von den Verhältnissen erzeugten Wirklichkeitszusammenhang
als bis in Wahrnehmung und Psychologie der Figuren hineinwirkenden Entfremdungszusammenhang
formal nachzubilden und gleichzeitig zu durchdringen. Das ist tatsächlich
viel mehr als soziale Anklage. Das geht an die Grundlagen unseres konventionellen
Wirklichkeitsverständnisses und versucht uns, neu sehen zu lehren.
Wolfgang Lasinger
Dieser Text ist zuerst erschienen bei: artechock
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
L'enfant
Frankreich / Belgien 2005 - Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc
Dardenne - Darsteller: Jérémie Renier, Déborah François,
Jérémie Segard, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione - Prädikat:
besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 95 min. - Start: 17.11.2005
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