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Die
letzte Versuchung Christi
Entzauberung
und Verzauberung
„Die
duale Substanz Christi –
die
Sehnsucht des Menschen,
so
menschlich und übermenschlich
zugleich,
Gott nahe zu kommen –
war
für mich schon immer ein
tiefes,
undurchdringliches Geheimnis.
Die
größte Qual und die Quelle all
meiner
Freuden und Schmerzen war
für
mich von Jugend an der
unaufhörliche,
erbarmungslose
Kampf
zwischen dem Geist und
dem
Fleisch ... und meine Seele ist
die
Arena, in der diese beiden Armeen
aufeinander
gestoßen sind und sich
getroffen
haben.“
(Nikos
Kazantzakis)
„Dieser
Film basiert nicht auf
den
Evangelien, sondern auf
dieser
fiktionalen Erforschung
des
ewigen spirituellen Konflikts.“
(Martin
Scorsese)
Jesus
(Willem Dafoe) liegt am Boden. Es schmerzt ihn. Der Schmerz sitzt tief. „Mit
einem Gefühl, ganz zart, ganz sanft, fängt es an. Und dann kommt der
Schmerz, als ob mir [...] ein Vogel die Klauen in den Schädel schlägt,
die Krallen graben sich ein. Kurz bevor sie meine Augen erreichen, lockern und
lösen sie sich allmählich, und dann erinnere ich mich.“ Das zarte,
sanfte Gefühl, die Rückbeziehung auf Gott, auf die Liebe, auf seine
Liebe und die Liebe zu Gott beherrscht seine Sinne. Und dann kommt der Schmerz,
so dass er sich krümmen muss – und erst dann kann er sich erinnern. Nikos
Kazantzakis verfolgt in seinem (umstrittenen) Roman ein „Konzept“ des Lebens
Jesus, dass anscheinend so ganz anders aussieht, als es die Evangelien nahe
legen und insbesondere später die Kirche verfolgt hat. Jesus ist zuerst
Mensch und dann Gottes Sohn. Er ist beides, einmal dies, dann das, dann beides
zugleich. Aber vor allem ist es das Konzept der Erinnerung und damit der Historizität,
der Rückversicherung des eigenen Lebens und des kollektiven Lebens, das
Kazantzakis Roman wie Scorseses Film, der sich auf das Buch stützt und
nur bedingt auf die Evangelien, bestimmt.
Erinnerung
ist kein funktionaler, mechanischer Vorgang, keiner, der Informationen „abruft“,
„speichert“ wie ein Computer. Erinnerung ist ein konstitutives Element unserer
individuellen wie sozial vermittelten Subjektivität. Sie vor allem speist
das, was wir das Bewusstsein unser selbst, unsere Individualität in einer
sozial verhafteten Welt, unser So-Sein und unser Nicht-So-Sein nennen. Erinnerung
ist vor allem Unterscheidungsvermögen und qualitative Unterscheidung in
Bedeutsames und Unwichtiges. Das, was für uns Bedeutung hat, ist kulturell
wie individuell konstitutiv für unsere Subjektivität.
Für
Jesus verdoppelt sich dies, weil er Mensch und Gottes Sohn zugleich ist. Aber
Religion, also Rückbezug, ist – neben der (personellen) Konstruktion eines
allmächtigen Schöpfers – eben auch Rückbezug auf das Allgemeine,
das Konstitutive der Gesellschaft und ihres historischen und kulturellen Werdens.
Erinnerung ist nicht nur positiv; Erinnerung kann schmerzen und schmerzt.
Scorsese
visualisiert einen Christus, der – stellvertretend für alle Menschen –
nicht nur nach Gottes Willen die Schuld aller auf sich nimmt und dafür
am Kreuz stirbt. Dieser Christus ist auch die Verallgemeinerung des Menschen
und dabei doch auch jedes konkreten Menschen. Er baut Kreuze für die Römer,
trägt sie nach Golgatha, der Schädelstätte, und an seinen Kreuzen
sterben die von den Römern Verurteilten. Jesus nimmt vorweg, was ihm selbst
passieren wird. Er lädt Schuld auch sich. Die Schuld, Ausdruck der Unvollkommenheit
aller Menschen, ist Teil dieses Jesus wie jedes anderen Menschen. Die Zartheit
und der Sanftmut der Liebe hier, der Schmerz der Schuld dort: beides droht den
Gottes- und Menschensohn zu zerreißen. Beides verkörpert sich in
Gott und Satan. Die Unschuld, verflogen nach der Vertreibung aus dem Paradies,
das absolut Gute spaltet sich in Gut und Böse. Was treibt diesen Jesus
– Gott oder Satan? Gott, antwortet er seiner Mutter Maria (Verna Bloom), und
sie fragt ihn, ob er sicher sei, ob es nicht Satan sei, der ihn treibe. „Ich
bin mir dessen nicht sicher“, antwortet er Maria. „Ich bin mir ganz und gar
nicht sicher.“ Sicher ist nur, dass der Zweifel Jesus beherrscht. Warum gibt
ihm Gott nicht die Sicherheit, die er so dringend benötigt, um das Himmelreich
auf Erden zu schaffen? Er provoziert Gott aus dieser Verzweiflung und Angst
heraus, indem er Kreuze für die Römer zimmert.
Die
Unsicherheit, Ausdruck der Verdopplung von Jesus als Gottes Sohn und Menschensohn,
verleitet ihn dazu, Gottes Liebe immer wieder zu verfluchen. „Gott liebt mich.
Ich weiß, er liebt mich. Ich ertrage den Schmerz nicht. [...] Er soll
mich hassen. Ich bekämpfe ihn. Ich zimmere Kreuze, damit er mich hasst.
Damit er einen anderen findet. Ich will jeden seiner Erlöser kreuzigen.“
Die
Angst ist Jesus' Gott. Die Angst und der Zweifel. Und er wundert sich selbst
über seine Wunder, etwa wenn er den toten Lazarus (Tomas Arana) wieder
zum Leben erweckt oder wenn er einen Blinden wieder sehend macht.
Scorsese
und Kazantzakis konstruieren einen Jesus, dessen Menschsein nicht vernachlässigt
wird. Sie zeigen jedoch auch in den anderen biblischen Gestalten andere Menschen
als gewohnt. Judas (Harvey Keitel), mit knallrotem Haar, ist der Revolutionär,
der, der mit Saulus (Harry Dean Stanton) die irdische Rebellion, den Umsturz,
den Kampf gegen die Römer auf ihre Fahnen geschrieben hat. Judas ist nicht
der Verräter, der Jesus für ein paar Silberlinge an die Römer
ausliefert. Nein, dieser Judas ist der vertrauteste Jünger Jesus, der,
der Jesus kritisiert, weil er nicht zum Aufstand aufruft, sondern die Seele
der Menschen befreien will, der jedoch gleichzeitig mit ihm geht, die Wucherer
aus dem Tempel vertreibt, und der auf Geheiß Jesus die römischen
Soldaten zu ihm führt, als Jesus Gottes Willen erkannt hat, dass er am
Kreuze sterben soll.
Oder
Johannes, der Täufer, (Andre Gregory) der Jesus davon überzeugen will,
dass Liebe allein nicht ausreicht, um das irdische Jammertal zu bekämpfen.
„Ungerechtigkeit kann ich nicht lieben“, sagt er zu Jesus. Auch das Konzept
des Satans ist kein Konzept des Bösen schlechthin. In der Wüste zieht
Jesus einen Kreis, und dort, in der Einsamkeit, die auch für die Einsamkeit
des Menschen steht, begegnet ihm Satan in Gestalt der Schlange, die ihm rät:
Rette dich selbst, nimm dir eine Frau, gründe eine Familie; in Gestalt
des Löwen, der ihm rät: Rette die Welt, ergreife die Macht; und in
Gestalt des Feuers, das ihm sagt: Setz dich auf den Thron und setze mich daneben.
Und dann erscheint ihm Johannes, der Täufer, und spricht: Nimm diese Axt
und trage die Botschaft zu den Menschen.
In
diesen Worten erkennt Jesus die Hilflosigkeit, der er ausgesetzt ist. Wie rette
ich die Welt? Wie rette ich die Menschen? Sollen sie alles umstürzen, was
Ungerechtigkeit erzeugt? Sollen sie sich ihre Seele befreien statt Krieg gegen
die Ungerechtigkeit zu führen? Was soll er tun, dieser Jesus? Er predigt.
Doch seine Predigten, vehement und zugleich fast flehend vorgetragen, bringen
ihm nur wenige Anhänger. Selbst in diesen Predigten ist er nicht nur Gottes
Sohn, sondern Mensch aus Fleisch und Blut.
Hin-
und hergerissen zwischen äußerem und inneren Aufstand, zwischen Revolution
und Reinigung der Seele, zwischen Gott und Satan, erkennt er schließlich,
dass sein Tod am Kreuz Gottes Willen ist – als Ausdruck nicht nur der Schuld
aller Menschen, sondern als Zeichen der Sühne für alle anderen. Am
Kreuz träumt er ein letztes Mal vom irdischen Dasein, verführt von
Satan in Gestalt eines Engels (Juliette Caton), führt ein Leben mit Maria
Magdalena (Barbara Hershey) und dann mit Maria (Randy Danson), der Schwester
des Lazarus bis zur Zerstörung von Jerusalem. Ein letzter Traum vom irdischen
Leben.
„Es
ist vollbracht“ – diese letzten Worte von Jesus vor dem Tod am Kreuz, erhalten
nicht nur durch diesen Traum eine andere Bedeutung, als ihnen normalerweise
beigemessen wird. Der Tod Jesus ist der Tod nicht nur von Gottes Sohn, sondern
auch der Tod eines Menschen. Die Fleischeslust – symbolisiert durch eine Szene
im Traum, in der Jesus mit Magdalena schläft –, ja die Lebenslust schlechthin,
und die Erhabenheit des Geistes sind zu gleichen Teilen konstitutiv auch für
das Leben Jesus. Diese Entzauberung des kirchlichen Jesus, ja, diese Ent-Ideologisierung
von Christus widerspricht vielleicht der katholischen oder überhaupt kirchlichen
Dogmatik, aber nicht dem Glauben, wie einige fundamentalistische Kritiker des
Films behaupteten. Sie zeigt die wahrscheinlich unauflösliche Dualität
menschlichen Strebens nach Vollkommenheit (gleich: Gott-Gleichheit), nach transzendentaler
Rückbeziehung, hier und der Unvollkommenheit, das heißt Schuld menschlichen
Daseins, dort. Das Gute und das Böse erscheinen nicht als zwei getrennte
Welten, sondern als zwei Seiten menschlichen Daseins. Gott und Satan sind nicht
Ausdruck von absolut reiner Seele hier und absoluter Lustbesessenheit dort,
sondern werden als zwei unabdingbare, sich ergänzende Eigenschaften visualisiert.
In dieser Dualität als Einheit von Widersprüchlichem geht Jesus seinen
schmerzhaften Weg. Sein Tod am Kreuz ist so nichts anderes als symbolischer
Ausdruck für das Leben aller Menschen.
Ganz
anders als Gibsons „The
Passion of the Christ“
(2004), der aus Jesus eine ideologische Figur im Sinne einer fundamentalistisch
verstandenen sektiererischen, politischen Glaubensrichtung zimmert, lässt
Scorseses „The Last Temptation of Christ“ alles offen. Der Film verführt,
ja zwingt zum Nachdenken über die Dualität unseres Daseins zwischen
Gut und Böse, Schuld und Vergebung. Er taugt eben gerade deswegen nicht
nur für Menschen mit Glauben, sondern auch für Nicht-Gläubige.
Die
Inszenierung besticht zudem durch karge und doch wunderbare, ja satte (von Michael
Ballhaus fotografierte) Bilder einer natürlichen und kulturellen Landschaft,
die nur scheinbar der Gegenwart so fern ist, durch eine Darstellung von Jesus
durch Willem Dafoe, die jedem Postkarten-Christus absolut fern ist, und nicht
zuletzt durch eine Musik von Peter Gabriel und Shankar, die der Atmosphäre
des Gezeigten zusätzliches Gewicht verleiht. „The Last Temptation of Christ“
ist ein wunderbarer, zarter, ja zärtlicher und zugleich schmerzhafter (gelungener)
Film, der – abseits jeder Hollywood-Manierismen – berührt und besticht.
Ein weiteres Mal bewährte sich die Zusammenarbeit zwischen Scorsese und
Paul Schrader, der auch die Drehbücher für „Wie
ein wilder Stier“
(1980) und „Taxi
Driver“
(1976) geschrieben hatte (ebenfalls auch das Drehbuch zu Scorseses „Nächte
der Erinnerung“, 1999).
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen – unter dem Namen POSDOLE - bei: www.ciao.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Die
letzte Versuchung Christi
(The
Last Temptation of Christ)
USA
1988, 164 Minuten
Regie:
Martin Scorsese
Drehbuch:
Paul Schrader, nach dem Roman von Nikos Kazantzakis
Musik:
Peter Gabriel, Shankar
Director
of Photography: Michael Ballhaus
Schnitt:
Thelma Schoonmaker
Produktionsdesign:
John Beard
Darsteller:
Willem Dafoe (Jesus von Nazareth), Harvey Keitel (Judas Ischariot), Paul Greco
(Zealot), Verna Bloom (Maria, Mutter Jesus), Barbara Hershey (Maria Magdalena),
Victor Argo (Petrus), Michael Been (Johannes), Leo Burmester (Nathaniel), Andre
Gregory (Johannes, der Täufer), Peggy Gormley (Martha, Schwester des Lazarus),
Randy Danson (Maria, Schwester des Lazarus), Tomas Arana (Lazarus), Harry Dean
Stanton (Saulus / Paulus), David Bowie (Pontius Pilatus), Juliette Caton (Schutzengel
Jesus)
Internet
Movie Database:
http://german.imdb.com/title/tt0095497
©
Ulrich Behrens 2004
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