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Lichter
der Vorstadt
Helsinki kann
sehr kalt sein
Hat sich durch all die Pisa-Studien und Nokia-Revolutionen
unser Finnland-Bild verändert? Blicken wir jetzt mit anderen Augen gen
Nordosten und auf die Filme von Aki Kaurismäki, als wir es damals, etwa
zu Zeiten von "Ariel" (1988), taten? Dieser eisige Film begann damals
mit der Schließung eines Betriebs, einer wortlosen Begegnung zweier entlassener
Arbeiter, einer Autoschlüsselübergabe, einer letzten Zigarette auf
der Toilette und einem Selbstmord. Später im Film erlebte man unvermittelt
eine wortkarge Liebesgeschichte und die rasante soziale Deklassierung des Protagonisten
Taisto. Mord und Totschlag, Arbeitslosigkeit und Kriminalität und am Schluss,
als die Figuren alles verloren hatten und gewissermaßen "frei"
waren, da erklang das Lied "Somewhere over the Rainbow", ohne zynisch
zu wirken. Aki Kaurismäki hat immer zu seinen Figuren gehalten und die
Zuschauer nie ohne etwas Hoffnung in die kühle Nacht entlassen.
18 Jahre und viele Filme später hat sich daran
wenig bis nichts geändert. Vielleicht sind seine Filme noch reduzierter
und formal klassischer geworden. Aber sonst? Mit "Lichter der Vorstadt"
vollendet Kaurismäki seine "Trilogie der Verlierer", die vor
zehn Jahren mit "Wolken
ziehen vorüber" begann
und 2002 mit dem großartigen "Mann
ohne Vergangenheit" fortgesetzt
wurde. In seinem neuen, vielleicht pessimistischsten Film überhaupt erzählt
Kaurismäki die Geschichte des einsamen Wachmannes Koistinen (Janne Hyytiäinen),
der von seinen Kollegen geschnitten und erniedrigt wird und nur manchmal - an
der armseligen Imbissbude von Aila (Maria Heiskanen) - etwas Aufmerksamkeit
und Zuwendung erhält oder doch zumindest zwei warme Bratwürste. Dabei
hat Koistinen Pläne, sein Job, seine trostlose Existenz - alles nur "vorübergehend",
wie er sagt. Er wird auf furchtbare Weise Recht behalten.
Wenn Koistinen Frauen ansprechen will, muss er sich
Mut antrinken. So scheint es geradezu eine märchenhafte Fügung, dass
er eines Tages die geheimnisvolle Blondine Mirja (Maria Järvenhelmi) kennen
lernt, die sich aus unerfindlichen Gründen zum unsicheren Wachmann hingezogen
zu fühlen scheint. Liebe? Mirja ist nur das Werkzeug eines Gangsters, der
sich Koistinens größter Schwäche - seiner Einsamkeit und seiner
Sehnsucht nach Liebe - bedient, um einen perfiden Raubüberfall durchzuziehen.
Der Gangsterboss Lindström hält sich für genial, wenn er mitteilt,
warum er Koistinen zum Opfer erkoren hat: "Der Wachmann ist treu wie ein
Hund, ein romantischer Trottel. Mein Genie ist, genau das erkannt zu haben!"
Das Helsinki, das Kaurismäki hier vorstellt,
ist architektonisch eine krude Mischung aus Industrialisierungstristesse und
postmodernem Glamour, ideologisch eine überzeugende Mischung aus Brecht
und Fassbinder - eine Welt, in der die Gangster modische Anzüge tragen
und in aller Öffentlichkeit agieren. Die Geschichte Koistinens ist ein
fast schon masochistisches Martyrium, seine Güte ist seine Schwäche,
seine Sehnsucht nach Liebe macht ihn zum Opfer.
Man mag sich an den Franz Biberkopf in Fassbinders
"Berlin Alexanderplatz"-Verfilmung oder den Franz Biberkopf in dessen
"Faustrecht
der Freiheit" erinnert fühlen.
So tief kann ein Erniedrigter und Beleidigter gar nicht gesunken sein, dass
man ihn nicht noch weiter quälen und erniedrigen könnte. Lakonisch
und schmerzhaft zugleich zeigt Kaurismäki, wie Koistinen den Boden unter
den Füßen verliert, wie seine Existenz zerstört wird. Die weiteren
Stationen - Widerstand führt nur zu noch mehr Gewalt! - sind das Gefängnis,
ein Obdachlosenasyl und schließlich ein tristes Hafengelände. Dort
geht es dann aber nur noch ums blanke Überleben. Am Ende des Tunnels ist
auch hier Licht, nur ist Koistinens Gesicht da schon so verschwollen, dass er
die Augen kaum noch öffnen kann, um es zu sehen.
"Lichter der Vorstadt" erinnert nicht nur
auf Grund des Titels an Charlie Chaplin - dessen êuvre kennt einen Film
mit dem Titel "Lichter
der Großstadt" und ein
Kind und ein Hund spielen auch bei Kaurismäki bedeutsame (Neben-)Rollen.
Auch in der holzschnittartigen Verdichtung des Erzählens zeigt Kaurismäki
das Essenzielle des Chaplin-Films. Die Bilder haben die Prägnanz klassischer
Stummfilme, brauchen kaum Worte zur Unterstützung. Die Farbdramaturgie
arbeitet mit den Primärfarben Blau und Rot. Vieles in "Lichter der
Vorstadt" bleibt dabei rätselhaft, die Vorgeschichte wird sogar konsequent
ausgespart. Am Ende weiß man nur: Helsinki kann sehr kalt sein, aber es
gibt immer eine Hand, die sich helfend anbietet.
Koistinen hätte sie viel früher sehen können.
So bleibt der Schluss dieser bitteren Studie über die Einsamkeit utopisch.
Der Film bemüht abstrakt Muster der Film- und Kunstgeschichte, die eine
sozialrealistische Dimension der Geschichte dementieren. Hier geht es um die
conditio humana: Ein einziges Mal huscht ein Lächeln über Koistinens
Gesicht. Da sitzt er im Gefängnis, verurteilt wegen eines Verbrechens,
mit dem er nichts zu tun hatte. Er befindet sich in guter Gemeinschaft, unter
anderen Häftlingen, ist vorübergehend geschützt vor der modernen
Gesellschaft. Kaurismäki ist ein Romantiker.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: Stuttgarter Zeitung
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
Lichter
der Vorstadt
Finnland
/ Deutschland 2006 - Originaltitel: Laitakaupungin valot - Regie: Aki Kaurismäki
- Darsteller: Janne Hyytiäinen, Maria Järvenhelmi, Maria Heiskanen,
Ilkka Koivula, Sergej Doudko, Andrej Gennadiev, Arturas Pozdniakovas - FSK:
ab 6 - Länge: 77 min. - Start: 21.12.2006
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