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Liebe
auf der Flucht
Erinnerung und
Versöhnung
"Caresses
photographiées sur ma peau sensible.
On
peut tout jeter les instants, les photos, c'est libre.
Y
a toujours le papier collant transparent
Pour
remettre au carré tous ces tourments." (1)
Das Gleiten durchs Leben, das Flüchten, das
Gleichgültige - hat es eine Grenze? Stößt es an Grenzen? Währt
es immer, bis zum Tod? Oder holt auch den Individualisten, den flüchtigen
Flüchtenden die Vergangenheit ein? Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud),
inzwischen über 30 Jahre alt, ist seiner Christine noch immer freundschaftlich
verbunden. Und als beide im Taxi zur Scheidungsrichterin fahren, erinnern sie
sich unabhängig voneinander an Szenen aus ihrem Leben. Truffaut arbeitet
in "Liebe auf der Flucht", dem letzten Teil der Doinel-Reihe, massiv
mit Rückblenden aus den vorhergehenden Filmen "Sie
küssten und sie schlugen ihn",
"Geraubte
Küsse" und "Tisch und Bett".
Ein weiterer Kurzfilm ("Liebe
mit Zwanzig: Antoine und Colette")
aus dem Jahr 1962, Teil eines mit den Regisseuren Ishihara, Ophüls, Renzo
Rossellini und Andrzej Wajda inszenierten Projekts (Truffauts Teil: 29 Minuten
lang), der einen Ausschnitt aus dem Leben Doinels nach seiner Flucht aus der
Erziehungsanstalt zeigt, wird ebenfalls in Rückblenden zitiert. Er zeigt
Antoine als Arbeiter in einer Schallplattenfirma und seine verzweifelten und
vergeblichen Bemühungen um die junge Colette (Marie-France Pisier), in
die er verliebt ist, wegen der er sogar die Wohnung wechselt, um in der Straße
zu wohnen, in der auch Colette und ihre Eltern leben - für die er aber
lediglich ein guter Freund ist.
Truffauts Rückblenden rekapitulieren nicht nur
die bisherige Biografie Doinels. Sie stehen vor allem für ein jetzt in
das Leben Antoines tretendes Moment, das einerseits sein bisheriges Leben in
Frage zu stellen scheint, das ihm andererseits jedoch auch dazu dient, seine
Biografie zu "schönen": die Erinnerung.
"On
était belle image, les amoureux fortiches.
On
a monté le ménage, le bonheur à deux je t'en fiche.
Vite
fait les morceaux de verre qui coupent et ça saigne.
La
v'là sur le carrelage, la porcelaine." (1)
Colette, inzwischen Anwältin, die Antoine nach
der Scheidungsverhandlung zufällig vor dem Gerichtsgebäude sieht,
trifft ihn in einem Zug wieder. Antoine springt, nachdem er nach der Scheidung
seinen Sohn in die Ferien geschickt hat, in den Zug, mit dem Colette wegfahren
will. Man kommt ins Gespräch - und zwar über das Buch, das Antoine
geschrieben hat. Und auch wenn dieses Buch "Les salades de l'amour"
kein Bestseller geworden ist, stellt es doch eines jener Momente der Erinnerung
dar, die in dem Film eine große Bedeutung spielen. Und Colette erwischt
Antoine bei einer faustdicken Lüge, die ihrer beider Geschichte betrifft.
Es sind allerdings weniger Lügen oder Lebenslügen,
die den Film durchziehen. Truffaut verwebt Erinnerung, Zeitebenen, Fiktionales
und Reales zu einem filmischen, erzählerischen Teppich, so dass deutlich
wird, wie Erlebtes, Erfahrenes bei verschiedenen Akteuren durchaus unterschiedlich
erinnert und verarbeitet worden ist. So erzählt Antoine Colette von einer
Freundin Christines namens Liliane (Dani), auf deren Beziehung Antoine extrem
eifersüchtig war. Diese Beziehung seiner Frau zu Liliane habe ihn dazu
getrieben, mit einer anderen Frau zu schlafen. Christine erzählt später
die Geschichte anders. Antoine habe mit Liliane geschlafen, um seine Eifersucht
auf deren Freundschaft zu Christine zu überwinden.
Antoine erzählt Colette von einer Geschichte,
die er schreiben wolle - von einem Mann, der einen anderen Mann in einer Telefonzelle
beobachtet habe, der wütend offensichtlich mit einer Frau gesprochen und
danach deren Bild zerrissen habe. Der andere Mann habe die Schnipsel wieder
zusammengesetzt, sich in das Bild der unbekannten Frau verliebt und (erfolgreich)
versucht, diese Frau zu suchen.
Doch auch dieses scheinbar Fiktionale ist real. Denn
bei der Frau auf dem Bild handelt es sich um Sabine (Dorothée), Antoines
Geliebte, die von diesem Ereignis nichts weiß. Colette andererseits weiß
nicht, dass sie sich irrt in ihrer Eifersucht auf eine Frau, die sie für
die Geliebte ihres Freundes Xavier (Daniel Mesguich) hält, die aber die
Schwester Xaviers ist: eben jene Sabine, mit der Antoine liiert ist.
Doch nicht nur Zeitebenen, Erinnerungen, Fiktionales,
Reales verschwimmen angesichts der unterschiedlichen Perspektiven der Akteure.
Truffaut "setzt"zudem, wie man sieht, auf den "großen Irrtum",
die "falsche Annahme". Auch Sabine irrt sich beispielsweise in der
Einschätzung von Antoines Gefühlen ihr gegenüber. Sie will sich
von ihm trennen, weil sie ihn zwar liebe, er sich aber für ein Leben mit
ihr nicht wirklich entscheiden könne.
"Nous,
nous, on a pas tenu le coup.
Bou,
bou, ça coule sur ta joue.
On
se quitte et y a rien qu'on explique refrain
C'est
l'amour en fuite,
L'amour
en fuite." (1)
Truffaut zieht also in "L'amour en fuite"
im Wortsinne Fäden unterschiedlicher Biografien, Erinnerungen usw., wobei
die Schlussfolgerungen der einzelnen Akteure bezüglich der Einschätzung
ihres eigenen Lebens und das der anderen bzw. deren Verhaltens vor allem geprägt
sind von: Irrtum und Unzulänglichkeit. Erst als (fast) alle diese Fäden
zusammenlaufen, verknüpft werden in Gesprächen zwischen Colette und
Antoine, diesem und Sabine, und auch zwischen Antoine und dem Ex-Geliebten seiner
vor Jahren verstorbenen Mutter, Monsieur Lucien (Julien Bertheau), eröffnet
Truffaut plötzlich eine Perspektive, die am Schluss des Films und am Schluss
des Doinel-Zyklus dann gar nicht mehr so absurd wirkt, wie es zunächst
vielleicht erscheinen mag: ein doppeltes Happyend. Als Sabine von dem zerrissenen
Foto erfährt, Antoine ihr die Geschichte mit der Telefonzelle erzählt
und ihr das zusammengeklebte Foto zeigt, kommt es zur Versöhnung. Und auch Colette und
Xavier versöhnen sich.
"J'ai
dormi, un enfant est venu dans la dentelle.
Partir,
revenir, bouger, c'est le jeu des hirondelles.
A
peine installé, je quitte le deux-pièces cuisine.
On
peut s'appeler Colette, Antoine ou Sabine.
Toute
ma vie, c'est courir après des choses qui se sauvent :
Des
jeunes filles parfumées, des bouquets de pleurs, des roses.
Ma
mère aussi mettait derrière son oreille
Une
goutte de quelque chose qui sentait pareil." (1)
Tatsächlich könnte dieser Schluss angesichts
der individualistischen Perspektive der vorangegangenen Filme in Bezug auf die
Figur des Antoine Doinel überraschen. Im nachhinein allerdings weniger,
denn Truffaut lässt über die Rückblenden, die nicht nur Erinnerung
artikulieren, sondern auch die Möglichkeit eröffnen, das eigene Leben
zu rekapitulieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, Antoine an eine Art
Knotenpunkt gelangen, an dem er zwar Individualist bleibt, seine egozentrische
Mentalität aber abzustreifen scheint. Gerade seine Erinnerungen, etwa an
die wunderschöne Szene in "Tisch und Bett", als er Christine
im Bett bittet, ihre neue Brille wieder aufzuziehen - eine Liebeserklärung,
die kaum schöner zu filmen ist, ermöglichen Antoine eine Art Kehrtwendung,
oder besser eine Korrektur zu vollziehen. Die Gleichgültigkeit, mit der
Antoine bislang durch sein Leben und das anderer gegangen ist, scheint ein Ende
gefunden zu haben - zumindest lässt Truffaut dies als Perspektive in der
Schlussszene zu.
Zugleich ist "Liebe auf der Flucht" aber
auch eine Rekapitulation Truffauts selbst auf seine Arbeit als Regisseur in
Bezug auf den Doinel-Zyklus, also eine filmische Vergewisserung, die Aufarbeitung
seiner eigenen Arbeit als Regisseur, die zu einem gewissen (positiven) Abschluss
gebracht wird. Das doppelte Happyend und die Rückblenden im Film auf die
anderen Filme stehen daher auch für diesen filmischen und filmhistorischen
Abschluss - schließlich war Truffaut vor seiner Arbeit als Regisseur Filmkritiker,
was sicherlich diese Art einer abschließenden Betrachtung der eigenen
Arbeit beeinflusst hat.
¦ ¦
¦ DVD ¦ ¦ ¦
Bild: 1,66:1 (16:9
anamorph)
Ton: Dolby Digital
1.0 Deutsch und Französisch
Untertitel: Deutsch
Auch diese DVD ist
Teil der Truffaut-Collection 2, die neben den Doinel-Filmen noch "Schießen
Sie auf den Pianisten" enthält. Auch dieses restaurierte Fassung des
Films glänzt in Ton und Bild und bietet als Extras die für die Reihe
übliche kurze Einführung in den Film durch den Truffaut-Biografen
Toubiana, sodann einen Audiokommentar der Hauptdarstellerin Marie-France Pisier,
die im übrigen auch am Drehbuch mitschrieb, ein Gespräch mit ihr und
Truffaut und eine abschließende Stellungnahme des Regisseurs zum Doinel-Zyklus.
Insgesamt eine mehr als zufriedenstellende DVD-Edition, deren Bonusmaterial
zusätzlichen Einblick in die Geschichte des Films bietet.
Die Truffaut-Collection 2 kostet derzeit bei amazon
€ 37,97, bei jpc € 39,99. Völlig überteuert bietet buch.de die DVDs
für € 51,99 an, ebenso bücher.de für € 50,99.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist
zuerst erschienen bei:
(1)
Laurent Voulzy: "L'amour en fuite".
Liebe
auf der Flucht
(L'Amour
en fuite)
Frankreich
1979, 94 Minuten (DVD: 89 Minuten)
Regie:
François Truffaut
Drehbuch:
François Truffaut, Marie-France Pisier, Jean Aurel, Suzanne Schiffman
Musik:
Georges Delerue, Laurent Voulzy
Kamera:
Néstor Almendros
Schnitt:
Martine Barraqué
Darsteller:
Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Marie-France Pisier (Colette Tazzi),
Claude Jade (Christine Doinel), Dani (Liliane), Dorothée (Sabine Barnerias),
Daniel Mesguich (Xavier Barnerias), Julien Bertheau (Monsieur Lucien)
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