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Liebe
mich, wenn du dich traust
Die
Beerdigung der Mutter. Der 8-jährige Sohn weinend im Arm seines Vaters.
Ein gleichaltriges Mädchen klettert auf den benachbarten Grabstein und
beginnt lauthals La vie en rose zu singen. Die Trauergesellschaft ist brüskiert,
aber der Junge lächelt, mit einer Träne im Auge. Seine Freundin ist
nicht auf den Grabstein gestiegen, um ihm beizustehen, nicht nur zumindest.
Sie hat es getan, weil er zuvor mit ihr gewettet hat - gewettet um ein kleines
Spielzeugkarussell, das die beiden hin- und hertauschen, vom Anderen zurückerobert
durch immer drastischere Wetteinsätze. So wird auf der Beerdigung gesungen,
in Gegenwart des Schuldirektors auf dessen Teppich uriniert und die Handbremse
des voll besetzten aber fahrerlosen Schulbusses gelöst. Bitterböse
sind diese Wetteinsätze, und wenn im Lauf des Films die Kinder erwachsen
geworden sind, gehen sie noch weiter. Eine perverse Art von Liebesbeziehung
entwickelt sich zwischen den beiden - eine Beziehung, die nicht erfüllt
werden kann, weil sie aus der Distanz lebt, die das kleine Karussell zwischen
sie bringt. Das Liebesgeständnis bringen beide nie über die Lippen,
und an dieser Wortlosigkeit scheitern sie immer wieder aufs Neue - nur die Herausforderung,
die Wetten, aus denen längst lebensbedrohliche Liebesbeweise geworden sind,
bleiben. Sie ersetzen ihnen all die Worte, die eine Beziehung sonst braucht
- sie ersetzen Nähe und Streit, Beistand und Verletzung.
Yann
Samuel inszeniert das alles auf zunächst überraschende Weise: Offensichtlich
an Amélie
hat er sich angelehnt in den ersten 20 Minuten seines Films. Knallbunt sind
die Bilder, die beiden Kinder stehen in einem Kulissenhimmel nebeneinander als
Adam und Eva, fast nackt. Sie erinnern an die Bilder des Künstlerpaars
Pierres et Gilles, die kindlichen Körper werden schon hier sexualisiert,
der Regisseur behandelt sie mit der gleichen Perversion, die sich die Protagonisten
später selbst entgegen bringen werden.
Amélie
war - das lässt sich an Jeux
d'enfants
wunderbar ablesen - ungemein Einflussreich auf die Ästhetik des zeitgenössischen
Films in Frankreich. Die gleichen Experimente der Kamera, die gleichen Spielereien
im Schnitt - es wirkt zu Beginn beinah, als wäre der Film eine Art Fortsetzung.
Die bunte Formenwelt der Amélie jedoch wird sehr schnell subvertiert
durch die bis zuletzt zynische Geschichte um die beiden Liebenden, deren Liebe
sie nicht erfüllen wollen, und Samuel leistet damit analytische Arbeit
am Vorbild: Auch in Amélie war jener düstere Wesenszug bereits angedeutet,
der in Jeux
d'enfants
zu den gemeinen Streichen führt, die die beiden Protagonisten den Anderen
und sich selbst spielen. Angedeutet, etwa, wenn Amélie ihrem ungeliebten
Nachbarn Streiche spielte, deren Ernsthaftigkeit zwar durch die fröhliche
Optik kaschiert, nicht jedoch gemindert wurde: Stromschläge aus dem angesägten
Lampenkabel musste da Amélies Opfer ertragen und die Zähne sollte
er sich mit Fußcreme putzen. Diesem Wesenszug, den Gemeinheiten, die sich
durch den Untergrund der Bonbonwelt zogen, hat Samuel sich bemächtigt und
ihn um ein Vielfaches vergrößert - so entsteht der verblüffende
Kontrast zwischen Ästhetik und Inhalt, der seinen Film zu Beginn und am
Ende auszeichnet. Ein Ende übrigens, das, wie vieles in diesem Film, in
zwei Lesarten dargeboten wird. Bekommen sich die beiden Liebenden nun doch noch,
oder gehen sie an ihrer Perversion zu Grunde - der Film erzählt beides,
die Entscheidung überlässt er dem Zuschauer.
Es
gibt jedoch auch einen Mittelteil, in dem der Regisseur sich ganz auf seine
Charaktere verlässt, den Teil, in dem das Verhältnis der Beiden auf
der Kippe steht, in dem aus der Kinderfreundschaft auch Liebe hätte werden
können, eine Liebe, die dann doch stecken blieb in dem ewigen Spiel um
das Karussell. Hier dominieren Großaufnahmen, die Gesichter der Schauspieler
strukturieren das Bild, nicht die technischen Spielereien und visuellen Einfälle
der Regie. Diesem Abwechslungsreichtum und der zynischen Subvertierung der Zuckerbäcker-Optik
ist es zu verdanken, dass Jeux
d'enfants
so viel mehr geworden ist als eine bloße Kopie: Ein Film über das
Spielen und die Liebe - und vor allem über den Zusammenhang zwischen beidem.
Ein Film auch über das Kino, über das, was man unter den Bildern etwa
einer Amélie entdecken kann, wenn man nur tief genug gräbt.
Benjamin
Happel
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Liebe
mich, wenn du dich traust
Frankreich
/ Belgien 2003 - Originaltitel: Jeux d'enfants - Regie: Yann Samuell - Darsteller:
Guillaume Canet, Marion Cotillard, Thibault Verhaeghe, Joséphine Lebas-Joly,
Emmanuelle Grönvold, Gérard Watkins, Gilles Lellouche - Länge:
93 min. - Start: 12.8.2004
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