zur
startseite
zum
archiv
Die
Liebenden des Polarkreises
Der
Bruder im Schrank
Der
Zufall spielt eine große Rolle im Leben der beiden Liebenden. Seit sie
acht Jahre alt sind und sich das erste Mal treffen, steht für sie fest:
Sie sind füreinander bestimmt. Und seit dieser Zeit führt der Zufall
sie immer wieder zusammen.
Sie
gehören wohl einer Fabelwelt an, diese beiden, die nur schlicht Ana und
Otto heißen. Alles scheint ihnen zu gelingen, nichts kann ihnen auf dem
Weg zur Liebe im Wege stehen. Doch die beiden haben eine Vorliebe für Umwege.
Anstatt sich gleich zusammenzutun, werden erst einmal die beiden jeweils ledigen
Elternteile der Kinder verkuppelt, so daß man bald im selben Haus wohnt
und sich noch näher sein kann. Und einige Jahre sieht man dann Otto nachts
ums das Haus schleichen, um heimlich ins Zimmer seiner Schwester zu klettern.
Es ist nur eine Tür weiter, aber er muß den Umweg gehen, um die Eltern
nicht aufzuwecken.
Der
spanische Autor und Regisseur Julio Médem, der sich hier ebensowenig
der sexuellen Seite seiner Figuren schämt wie in seinem späteren Drama
"Lucía
und der Sex",
widersteht glücklicherweise der Versuchung, das Quasi-Tabu der Stiefgeschwisterliebe
auszuschlachten. Stattdessen setzt er ausgerechnet hier komödiantische
Höhepunkte, wenn Otto sich bei der Schwester erst unterm Bett und dann
im Schrank verstecken muß, um nicht vom Vater entdeckt zu werden, während
nebenan die Mutter sein leeres Bett findet und sich Sorgen macht.
Doch
mit dem Tod der Mutter kippt der Film ins Unberechenbare, und die Umwege, die
die Figuren nehmen, werden immer weitläufiger. Otto flieht aus Spanien
und reißt das scheinbar unzertrennliche Paar abrupt auseinander. Und plötzlich
verkehrt sich Médems Geschichte ins Gegenteil, es beginnt eine weltweite
Jagd nach einem Wiedersehen, und der Zufall, früher doch so hilfreich,
scheint es nun stets zu verhindern. So streifen die beiden Protagonisten mehrmals
haarscharf aneinander vorbei, ohne sich zu treffen, sei es in den Straßencafés
Madrids oder in den unzugänglichen Wäldern Finnlands.
Souverän
verknüpft Médem die Schicksale der beiden Liebenden, und deutet
immer wieder auf einen großen, Jahrzehnte alten Plan hin, der die Geschicke
seiner Figuren zu lenken scheint. Gonzalo Berridis Kamera zeigt entsprechend
grandiose Tableaus von malerischen Landschaften und traumwandlerischen Bewegungen.
Jeder Ort hier scheint das Schicksal zu atmen, alle Figuren scheinen durch unsichtbare
Bande gesteuert und miteinander verknüpft, und jede Einstellung zeichnet
den Fabelcharakter der Geschichte nach.
Als
die inzwischen erwachsene Lehrerin Ana (Najwa Nimri) den Postflieger Otto (Fele
Martinez) endlich am Polarkreis aufspürt und dem Zufall endlich nachhelfen
will, entwickelt der Film noch einmal Spannung. Der größtmögliche
Umweg, von Spanien nach Nordfinnland, ist gegangen. Die beiden Liebenden umkreisen
sich nun immer enger, ein Aufeinandertreffen scheint unvermeidlich und findet
schließlich, endlich, in einem kleinen Dorf in Lappland statt - doch nicht
unter den Umständen, die die Liebenden erhofft hatten. Der Zufall ist eben
doch unberechenbar.
Daniel
Bickermann
Dieser
Text ist zuerst erschienen im:
Die
Liebenden des Polarkreises
Los
amantes del círculo polar. E/F 1998. R,B: Julio Médem. K: Gonzalo
F. Berridi. S:
Iván Aledo. M:
Alberto Iglesias. P: Sociedad, Studio Canal. D: Nancho Novo, Maru Valdivielso,
Peru Medem, Sara Valiente u.a. 112 Min.
zur
startseite
zum
archiv