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Liebes
Tagebuch…
Natürlich
kommt er aus Italien, 'der' Sommerfilm dieses Jahres. Im sommerlich verlassenen
Rom dreht Nanni Moretti auf einem Vespa-Roller seine Runden. Bei seinen Streifzügen
bewundert er Fassaden, singt mit einer Merengue-Gruppe, kommentiert römische
Stadtviertel und die Pantoffel der Bewohner. Im Kino ärgert sich Moretti
über die Larmoyanz der Intellektuellen: Selbst die Optalidon seien nicht
mehr die gleichen wie früher, jammern sie. Moretti ruft ihnen zu: "Ich
habe bei den Demonstrationen das Richtige geschrieen, und heute bin ich ein
prachtvoller Vierziger." Jennifer Beals allerdings, der Tanz-Star von "Flash
Dance", den Moretti bewundert und zufällig auf der Straße trifft,
meint über den seltsamen kleinen Italiener mit offenem Helm und Sonnenbrille
er sei 'off'. Nicht "crazy", also verrückt, aber zumindest "off",
das heißt 'anders'. Diese andere Sicht in "Liebes Tagebuch"
macht seine Frische, seine Freude aus. Denn Moretti sagt von sich im Film "Ich
glaube an die Menschen, aber ich glaube nicht an die Mehrheit der Menschen.
Mir scheint, daß ich immer mit einer Minderheit übereinstimme und
mich wohl unter ihnen fühle."
Der
Römer Moretti verstand sich schon immer als Außenseiter, als kritischer
und anarchistischer Geist. Außer über die eigenen, preisgekrönten
Filme war der bei uns noch weitgehend unbekannte Regisseur als Schauspieler
in dem von seiner Produktionsfirma 'Sacher' finanzierten "Der Taschenträger"
zu sehen. Viel passiert nicht bei den kleinen Erlebnissen in der einsamen Stadt,
aber jede Episode aus "Liebes Tagebuch" ist eine gefühlvolle
Perle, die man nie mehr aus dem Herzen lassen möchte. Auf seiner Sommerfahrt
begleiten den italienischen Regisseur und Schauspieler Moretti ebenso wunderbar
sommerliche Musikstücke von Leonard Cohen, Kahled oder Angelique Kidjo.
Keith Jarretts "Köln-Konzert" umspielt Morettis bewegenden Besuch
beim Todesort Pier Paolo Pasolinis am Strand von Ostia. Nanni Moretti als "Signore
Jones", der Narr, der den Leuten einen Lebens-Spiegel vorhält, bestimmt
das erste Kapitel dieses dreiteiligen Tagebuchs. Als Beobachter reist er danach
mit einem Freund über die Liparischen Inseln, deren unterschiedliche Lebensweisen
sich wie einzelne Menschen darstellen. Dem hektischen Lipari, wo sich all die
Autos versammeln, die Rom fehlten, folgt das von einem Einzelkinder-Wahn beherrschte
Salinas. Die imposante Vulkanlandschaft von Stromboli und die Trivialität
amerikanischer TV-Serien, ein zu aktives Panarea und ein unerträglich einsames
Ithaka folgen. Überall gelingt es Moretti den Moment einzufangen und zu
verwandeln zu großem emotionalen Erleben. Diese vor allem im dritten Teil
sehr persönlichen Filmnotizen erhielten in Cannes den Preis für die
beste Regie. Das letzte Kapitel "Die Ärzte" ist als andere Geschichte
ganz einer Krankheit Morettis gewidmet, dem ersten Juckreiz, den vielen Arztbesuchen,
der Hoffnungslosigkeit.
PS:
Noch eine nette Szene: Einem Kritiker, der sich positive Bemerkungen zu "Henry
- Porträt eines Serienkillers" aus dem verwirrten Kopf drückte,
hält der von der sinnlosen Gewalt erschütterte Moretti ein Kritiker-Gericht.
Günter
H. Jekubzik
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Liebes
Tagebuch...
CARO
DIARIO
Italien
/ Frankreich - 1993 - 101 min.
Regie:
Nanni Moretti
Tragikomödie
FSK:
ab 12; feiertagsfrei
Verleih:
Filmwelt/prokino, Arthaus (Video)
Erstaufführung:
14.7.1994/16.1.1995 Video/24.8.1995 premiere
Fd-Nummer:
30867
Produktionsfirma:
Sacher/RAI Uno/Banfilm/La Sept Cinema/Canal plus
Produktion:
Angelo Berbagallo, Nanni Moretti
Buch:
Nanni Moretti
Kamera:
Giuseppe Lanci
Musik:Nicola
Piovani
Schnitt:
Mirco Garrone
Darsteller:
Nanni Moretti (Nanni)
Renato
Carpentieri (Grerado)
Antonio
Neiwiller (Bürgermeister von Stromboli)
Claudia
della Seta (eine Mutter)
Lorenzo
Alessandri (ein Vater)
Raffaella
Lebboroni (eine Mutter)
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