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Das
Lied vom jungen Akkordeonspieler
Wie
aus einer anderen Zeit: ein kasachischer Spät-Fellini
Wo
die gewohnten Lebenszusammenhänge zerbrechen, da wird auch das Filmeproduzieren
– technisch wie ästhetisch – zu einer besonderen Kunst. Nichts ist mehr
selbstverständlich. Die Gegenwart entzieht sich der Beschreibung. Nur die
Erinnerung bleibt. Vielleicht sieht ja auch deshalb das Kino mancher Regionen
so aus, als hätte sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Nach Beschkempir
(Aktan Abdalikow, Kirgistan 1998) und Der
Flug der Biene
(Jamshed Usmonov/Boung Hun Min, Tadschikistan/Südkorea 1998) kommt mit
der kasachischen Produktion Das
Lied vom jungen Akkordeonspieler
nun ein Film aus Zentralasien bei uns ins Kino, der zwar etwas älter als
die genannten ist, ihnen aber doch in Stimmungslage und Erzählton ähnelt.
Auch der Akkordeonspieler ist eine Dorfgeschichte und – bis auf einige farbige
Traumsequenzen – in Schwarzweiß gedreht, das hier manchmal bis zum Gleißen
überbelichtet ist. Regisseur Satybaldy Narymbetov kehrte wie Jamshed Usmonov
zum Drehen in sein Heimatdorf zurück, und wie Usmonovs Flug
der Biene
enthält Das
Lied vom jungen Akkordeonspieler
autobiografische Elemente. Doch Narymbetov ist entscheidende 20 Jahre älter
als sein junger Kollege, hat seine Ausbildung wie auch prägende Berufsjahre
noch zu Sowjetzeiten gemacht. Er kam 1946 auf die Welt, kurz nach Kriegsende.
Und so schickt er uns auch mit diesem Film zurück in die sowjetischen Nachkriegsjahre.
Es
ist, auf den ersten Blick, eine idyllische Kinderzeit, geprägt von ersten
Einblicken in die Geheimnisse des Erwachsenenlebens in einer fernen Welt, der
Peking näher ist als Paris und Leningrad eine Stadt in der Nähe von
Moskau. Das ganze Panoptikum des Landlebens ist präsent. Der verlachte
Dorftrottel. Die eifersüchtig umworbene Bibliothekarin. Die fleischliche
Lust in Form ehelicher Untreue, hier ganz fellinesk unter den neugierigen Blicken
der versammelten Jungs in einem verfallenen Stallgebäude inszeniert. Die
Tanzveranstaltungen, wo der junge Esken das Akkordeonspielen und das Verzichten
lernt. Und erste Kinoerlebnisse. Von einem Baum aus können die Jungen heimliche
Einblicke in ein Spektakel nehmen, das fesselt und doch harmloser nicht sein
könnte: Es ist das Ende von Chaplins Lichter
der Grossstadt,
das hinter der hohen Mauer flickert.
Doch
Narymbetov belässt es nicht bei der Idylle. Der Vater von Eskens Freund
sitzt als jüdischer „Kosmopolit" im Gefängnis. Das Spitzeltum
geht um. Und dann sind da japanische Zwangsarbeiter, von denen zwei von Eskens
Vater allzu gastfreundlich in die Familie aufgenommen werden, was ihm später
zum Verhängnis wird.
Es
ist der subjektive Blick eines kleinen Jungen, gespiegelt im sentimentalen Blick
des 50-jährigen Mannes. Eine zärtliche, brutale Welt. Eine, wo Frauen
entweder Mütter sind oder Dorfschönheiten oder Huren. Ein kasachischer
Spät-Fellini. Ein schöner Film. Und wenn man nicht so ganz genau hinsieht,
könnte man wirklich denken, dieser Film käme aus einer anderen Zeit.
Silvia
Hallensleben
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Das
Lied vom jungen Akkordeonspieler
KÖZIMNIN
KARASY
Kasachstan
1994. R: Satybaldy Narymbetov. B: Iztule Izmaganbetova, Satybaldy Narymbetov.
P:
Ali-Aidar Karjaouov. K:
Hasan Kydyraliev. Sch: Svetlana Nijazova. T: Igor Pozdenko. A: Rustem Abdrashev.
Pg:
Kazakhfilm/Miras Film. V: Neue Visionen. L: 90 Min. DEA: Berlinale 1995. Da:
Daulet Taniev (Esken), Peya Haytovich (Yurka), Bachytzhan Alpiesov (Vater),
Rayhan Itkozhanova (Mutter), Sovetbek Zhumadylov (Soldat), Ahan Sataev (Student).
Dt.
Start: 28.12.1995
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