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Lili
Marleen
„Wenn
man überleben will ..."
„Vor
der Kaserne,
Vor
dem großen Tor,
Stand
eine Laterne
Und
steht sie noch davor.
So
woll'n wir uns da wiederseh'n,
Bei
der Laterne woll'n wir steh'n,
Wie
einst, Lili Marleen.
Unsere
beiden Schatten
Sah'n
wie einer aus,
Dass
wir so lieb uns hatten,
Das
sah man gleich daraus.
Und
alle Leute soll'n es seh'n,
Wenn
wir bei der Laterne steh'n,
Wie
einst, Lili Marleen.“ (1)
Fassbinders
„Lili Marleen” ist in einer Hinsicht ein Phänomen: Einerseits hatte Fassbinder
geschworen nie wieder mit Hanna Schygulla zusammenarbeiten zu wollen, andererseits
verkörperte die Schauspielern zu dieser Zeit den weiblichen deutschen Star
auf internationalem Parkett, wozu ihr vor allem ihre Rolle in „Die
Ehe der Maria Braun”
verholfen hatte. Das unperfekte perfekte Paar Fassbinder-Schygulla kam dennoch
wieder zusammen. Denn „Lili Marleen” war eine Auftragsarbeit, und das ausgerechnet
von seiten des Produzenten Luggi Waldleitner, einem der ältesten Produzenten
Deutschlands, der der Industrie nahestand und dem konservativen Lager, sowie
dem Drehbuchautor Manfred Purzner, der der Münchner Schickeria und ihrem
konservativen Establishment nahe stand. Fassbinder griff dennoch zu, machte
aber zur Bedingung, dass er das Team für den Film zusammenstellen konnte.
Schygulla stimmte zu, war aber nicht bereit, unter einem Regisseur Purzer zu
arbeiten. Ein Arrangement besonderer Qualität: die Repräsentanten
des Neuen Deutschen Films arbeiteten mit denen zusammen, sozusagen „den Vätern”,
gegen die sie zeither rebelliert hatten. Thomas Elsaesser weist zurecht auf
die Parallelität zwischen Fassbinder und der Rolle der Willie im Film hin:
„[...] sich gebrauchen lassen als Vorzeigefigur in einer bestimmten politischen
Konstellation und sich dabei trotzdem selbst nicht untreu werden” (3).
„Lili
Marleen” ist insofern Ausdruck von zweierlei: Fassbinder verkaufte sich an die
Macher der Hitler-Welle, die zu dieser Zeit grassierte. Und er verkaufte über
den Film eine eigenständige Sicht des Faschismus bzw. des Kontextes von
Faschismus, Ästhetik und seiner eigenen Sicht in puncto Bestimmung sämtlicher
menschlichen Beziehungen durch Tauschwert, also als Warenbeziehungen. Dabei
ist Lale Andersens Biografie in gewisser Weise nur der Aufhänger für
die im Film erzählte Geschichte, die in weiten Teilen von Andersens Beschreibung
abweicht. Das Lied, die Beziehung der Andersen zu dem in der Schweiz lebenden
Komponisten Rolf Liebermann und einige wenige andere biografische Einzelheiten
griff Purzer auf, das meiste andere ist erfunden oder beruht auf Spekulationen
(z.B. die Frage der Beteiligung am Widerstand).
•
I N H A L T •
„Schon
rief der Posten:
Sie
blasen Zapfenstreich,
Es
kann drei Tage kosten!
Kamerad,
ich komm' ja gleich.
Da
sagten wir Aufwiederseh'n.
Wie
gerne wollt' ich mit dir geh'n,
Mit
dir, Lili Marleen!
Deine
Schritte kennt sie,
Deinen
schönen Gang.
Alle
Abend brennt sie,
Mich
vergaß sie lang.
Und
sollte mir ein Leid gescheh'n,
Wer
wird bei der Laterne steh'n,
Mir
Dir, Lili Marleen?“ (1)
Zürich
1938. Willie (Hanna Schygulla) liebt Robert (Giancarlo Giannini). Das
Glück ist groß für Willie. Es strahlt über ihr ganzes Gesicht.
Willie singt, nicht besonders erfolgreich, nicht einmal besonders gut, aber
sie träumt von einer großen Karriere. Robert ist Komponist und hat
Chancen, berühmt zu werden. Willie ist Deutsche, Robert ist Jude, sie lieben
sich in der Schweiz. Aaron (Gottfried John) holt die beiden in die Wirklichkeit
zurück, die Wirklichkeit von Roberts Vater David Mendelsson (Mel Ferrer),
einem begüterten Mann, der eine Hilfsorganisation leitet, mit Hilfe derer
er Juden und jüdisches Vermögen aus Deutschland herausholt. Robert
arbeitet als Kurier für diese Organisation, und sein Vater betrachtet die
Verbindung mit einer Deutschen als Gefahr für seine Arbeit. Doch Robert
hält an der Verbindung zu Willie fest. Willie weiß zunächst
nichts von Roberts Tätigkeit. Sie singt, und sie wird in Zürich gehört
von zwei Deutschen in Zivil, dem SS-Gruppenführer Hans Henkel (Karl-Heinz
von Hassel) und dessen Adjutanten von Strehlow (Erik Schumann). Henkel ist fasziniert
von Willie. Er ist Beauftragter Goebbels für Kultur in München.
David
Mendelsson ist entschlossen, die Arbeit seiner Organisation nicht zu gefährden.
Er trifft sich mit Willie und bittet sie, Robert bei seiner nächsten Kurierfahrt
nach Deutschland zu begleiten. Inzwischen jedoch kauft er sämtliche Schuldscheine
auf und schwärzt Willie bei der Ausländerpolizei an. An der Grenze
wird Willie die Wiedereinreise in die Schweiz verweigert. Robert, der von den
Machenschaften seines Vaters erfährt, ist erbost, zieht sich in seine Arbeit
als Musiker zurück.
„Aus
dem stillen Raume,
Aus
der Erde Grund,
Hebt
mich wie im Traume
Dein
verliebter Mund.
Wenn
sich die späten Nebel dreh'n,
Werd'
ich bei der Laterne steh'n
Wie
einst, Lili Marleen.“ (1)
Willie
ist verzweifelt, erinnert sich an Henkel. Der besorgt ihr in München einen
Auftritt im „Simpl“, wo sie den Pianisten Taschner (Hark Bohm) kennenlernt.
Ein unbekanntes Lied „Lili Marleen“ bringt die Anwesenden in Streit. Aber Henkel
und von Strehlow gefällt der Song. Und Henkel will unbedingt, dass das
Lied auf Platte aufgenommen wird.
Derweil
sucht Robert verzweifelt nach Willie, begibt sich selbst in Gefahr, als er 1939
in München bei Henkel im Garten auftaucht, während der mit Willie
„Lili Marleen“ auf Schallplatte aufnimmt und Hitler gerade den Angriff auf Polen
als Verteidigung verkauft.
„Es
zittern die morschen Knochen
Der
Welt vor dem roten Krieg,
Wir
haben den Schrecken gebrochen,
Für
uns war's ein großer Sieg.
Wir
werden weiter marschieren
Wenn
alles in Scherben fällt,
Denn
heute da hört uns Deutschland
Und
morgen die ganze Welt.“ (2)
Als
der deutsche Sender der Wehrmacht nach der Einnahme von Belgrad mehr zufällig
„Lili Marleen“ spielt, wird das Lied zu einem Hit unter den Soldaten, später
auch bei alliierten Sendern. Willie macht Karriere. Sie und Taschner ziehen
in ein Haus, das der Führer persönlich für sie bereit gestellt
hat. Robert dagegen, den die Gestapo überwacht, wird mit falschem Pass
festgenommen. Und auch Willie gerät in Gefahr, weil sie für die Organisation
in der Schweiz einen Film über die Situation in den Konzentrationslagern
geschmuggelt hat. Ihr Ansehen bei Hitler schützt sie noch. Vor allem aber
ist es von Strehlow, der sie vor dem Schlimmsten bewahrt: Er nimmt den Film
an sich und leitet ihn weiter an Mendelsson. Was sie nicht weiß: Robert
hat inzwischen auf Druck seines Vaters Miriam (Christine Kaufmann) geheiratet
...
„Und
liegt vom Kampfe in Trümmern
Die
ganze Welt zuhauf,
Das
soll uns den Teufel kümmern,
Wir
bauen sie wieder auf.
Und
mögen die Alten auch schelten,
So
lasst sie nur toben und schrei'n,
Und
stemmen sich gegen uns Welten,
Wir
werden doch Sieger sein.“ (2)
•
I N S Z E N I E R U N G •
Die
Partei hat inszeniert. „Führer befiehl’, wir folgen“ prangt es über
der Bühne. Wohl geordnet sitzen Parteigenossen in Reih und Glied, fesche
Mädels in Bauerntracht umsäumen die Halle. Ein Fanfarenchor wartet
geduldig auf den Auftritt. Ein Schild auf der Bühne trägt die Inschrift
der Städtenamen, die die Wehrmacht bereits erobert hat oder in Siegesgewissheit
zu erobern gedenkt. Aus dem Hintergrund tritt sie auf, in einem weißen
Glitzerkleid, schlank und schön, die roten Lippen noch unbewegt. Eine Stufe,
zwei Stufen schreitet sie auf dem Treppchen herab. Die Musik setzt ein. „Lili
Marleen“. Willie, die längst zu Lili Marleen geworden ist, durch eine bewusst
inszenierte Metamorphose, erobert das ausgewählte Publikum wie die Soldaten
an der Front. Selbst die Alliierten haben erkannt, welchen Bannstrahl dieses
Lied, gesungen von dieser Frau, erzeugt. Ein Heuchler der, der behauptet, sein
Herz sei nicht gerührt – von diesem Lied, dieser Stimme, dieser Frau!
Die
Inszenierung des Regimes scheint perfekt. Ein Lied und eine Frau, die eins geworden
zu sein scheinen, kanalisiert den Terror und die Macht in die Bahnen einer Show.
Während die Rosen Lili Marleen auf der Bühne zufliegen und sie und
das Regime in Glanz und Glimmer erleuchten, zerfetzen Bomben Zehntausende von
Soldaten und türmen sich die Leichenberge in den Vernichtungslagern. Sechs
Millionen hören das Lied täglich, sechs Millionen Menschen sterben
in den Öfen der Schlächter.
Aber
Fassbinder geht es in „Lili Marleen” nicht um Schuldzuweisungen. Verurteilt
wurde schon, die Barbarei ist längst als solche und in vielen Einzelheiten
bekannt und erkannt. „Lili Marleen” ist vielmehr auf der Spurensuche und verknüpft
verschiedene Ebenen des Kontextes „1939-1945”, um zu einer Analyse zu kommen,
die über den Komplex „Schuld und Sühne, Verantwortung und Verantwortungslosigkeit”
hinausgeht. Die Geschichte ist – von der Melodramatik her gesehen – im Grunde
eine doppelte. Während Robert, dem klassischen Melodrama folgend, aus einer
schmerzhaften und unerfüllten Liebe (zu Willie) heraus zu einem Nachkriegshappyend
„geführt” wird (Erfolg als Musiker, Dirigent, Heirat mit Miriam), verkehrt
sich das Melodramatische bei Willie. Bei ihr steht die Liebe am Anfang, dann
kommt der Erfolg als Star, und am Schluss steht in puncto Robert die bittere
Erfahrung, dass Wunsch und Begehren unerfüllbar sind.
Willie
liebt Robert über die Jahre des Krieges hinweg. Je weniger sie sich sehen
(können), desto größer ist ihr Wunsch, sich mit Robert „irgendwann”
wieder zu vereinen. Hier liegt ihr fast schicksalhaft anmutender Irrtum. Denn
ansonsten handelt Willie nach dem Gesetz des Tausches: Gebt ihr mir das, gebe
ich Euch das. Während sie sich einerseits dem Regime gegenüber prostituiert
und als Markenzeichen, als wirkliches Zeichen des Regimes vermarkten lässt
und dafür entsprechende Privilegien, Ruhm, Geld erhält, behauptet
sie andererseits ihre Unabhängigkeit gegenüber den sie begehrenden
Männern (Henkel und von Strehlow, aber auch Taschner), eben auch, weil
sie dadurch, dass sie an ihrer Liebe zu Robert festhält, eine unabhängige
Entscheidung trifft, die niemand beeinflussen kann.
Es
sind diese emotionale Grundentscheidung und die Erkenntnis, dass ihr Leben und
Überleben von der grundlegenden Bestimmung durch Tauschverhältnisse
geprägt ist, die ihr Verhalten einer gewohnten Sichtweise à la:
„Sie hat sich den Nazis verschrieben, um Ruhm zu erlangen” etc. entziehen. Das
mag auch damalige Kritiker des Films dazu bewogen haben, Fassbinder vorzuwerfen,
er habe sich – in welcher Weise auch immer – zu sehr der Ästhetik des Faschismus
genähert. An einer Stelle des Film sagt Willie zu Robert, der wissen will,
auf welcher Seite sie steht:
„Auf
deiner Seite. Solange ich lebe, werde ich immer auf deiner Seite stehen. Aber
man kann es sich nicht immer aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben
will.”
Diese
Aussage ist ernst gemeint, nicht nur so dahin gesagt. Sie fällt in der
wohl zentralen Szene des Films, in der alle Bedeutungen, Zeichen, Ereignisse,
privaten wie politischen Dimensionen in einer Sequenz derart „übertrieben”
zusammengeschnitten wurden, dass es einiges an Überlegung kostet, was Fassbinder
hier eigentlich deuten will.
„Sie
wollen das Lied nicht begreifen,
Sie
denken an Knechtschaft und Krieg
Derweil
unsre Äcker reifen,
Du
Fahne der Freiheit, flieg!
Wir
werden weiter marschieren,
Wenn
alles in Scherben fällt;
Die
Freiheit stand auf in Deutschland
Und
morgen gehört ihr die Welt.” (2)
Willie
ist bei Henkel, um das Lied aufzunehmen. Die Aufnahmen dauern die ganze Nacht.
Und Willie ist nervös und müde. Henkel ordnet um 6 Uhr morgens eine
Pause an. Er lässt das Radio anstellen. Man hört den Führer mit
den Worten: „Seit 5.45 wird jetzt zurückgeschossen.” Kriegsbeginn. Im Hintergrund
steht Frau Lederer (Karin Baal), eine Verbindungsperson des Widerstands in München.
Im Garten – es ist noch dunkel – wartet Robert, der Gewissheit will, auf welcher
Seite Willie steht. Alles und alle sind beisammen. In dieser Szene konzentriert
sich die ganze Tragik der damaligen Situation in wenigen Personen. Sämtliche
Schnittpunkte, „Verwicklungen”, Konfliktsituationen usw. sind ebenfalls „beisammen”.
In
den Problemen bei der Aufnahme des Liedes offenbart sich die Widersprüchlichkeit
des Hits selbst – äußerlich formuliert in dem Zwist zwischen Goebbels,
der das Lied als zersetzend brandmarkt, und Hitler, der die Bedeutung des Lieder
für das Regime erkannt hat –: es schwankt zwischen Todessehnsucht („Aus
dem stillen Raume, aus der Erde Grund hebt mich wie im Traume Dein verliebter
Mund. Wenn sich die späten Nebel dreh'n, werd' ich bei der Laterne steh'n”)
und Defaitismus, Verweigerung („so woll'n wir uns da wiederseh'n, bei der Laterne
woll'n wir steh'n, wie einst Lili Marleen”), enthält aber zugleich ein
Versprechen, das durch seine allabendliche Wiederholung dem Regime nützlich
wird: die Aussicht auf die Wiedergewinnung des verlorenen (Liebes-)Objekts nach
(!) dem Schrecken des Krieges. Das Lied reproduziert damit das Doppelgleisige
der NS-Ideologie: Nur durch den (totalen) Krieg („Anstrengung”, Kampf, Mut etc.)
werde das „Tausendjährige Reich” („das Himmelreich auf Erden”) möglich.
Die
Brüchigkeit dieses Kontextes offenbart sich in der Szene durch die Schwierigkeiten,
zu einer angemessenen Aufnahme zu gelangen: Henkel drängt, Willie will
„doch nur ein Liebeslied singen”. Das Lied wird montiert mit dem „Kriegsausbruch”,
den Hitler ideologisch als Verteidigungsmaßnahme verkauft (das Märchen
um den polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz). Draußen wartet Robert,
der Gewissheit von Willie will. Später wird sie aus Liebe zu Robert den
Film über die KZs schmuggeln. Der Widerstand in der Person von Frau Lederer
wartet ebenfalls. Die Szenerie ist beängstigend und enthüllend zugleich.
Alle warten. Henkel auf die Aufnahme, Robert auf Willie, der Widerstand auf
Willie, Willie wartet auf das Ende der Aufnahme, die sie überfordert (sie
will doch nur ein Liebeslied singen).
Aber
gerade in dieser „Warteschleife” liegt die bittere Ironie, die Fassbinder in
diese Szene hineinprojiziert. Das Warten symbolisiert in gewisser Weise nur
die massive, an diesem Punkt – dem Angriff auf Polen – konzentrierte Abhängigkeit,
der sich die Handelnden unterworfen haben. Das Wort „Verstrickung” erhält
so einen verschobenen Bedeutungsgehalt, weil es nicht mehr „einfach” um „persönliche
Verstrickung” geht, sondern um ein komplexes Abhängigkeitsverhältnis,
das von einzelnen nur noch schwer durchschaubar ist. Sich verstricken und verstrickt
werden durch andere werden in dieser Sicht zu einer untrennbaren Einheit, so
dass „Schuld” nur ein Moment des Geschehens darstellt.
Die
Herrschaft der Tauschverhältnisse bis in die letzten Winkel menschlicher
Beziehungen offenbart sich auf drastische und zugleich (durch die Montage in
dieser Szene) ironische Weise. Robert hat sich dem patriarchalen Vater unterworfen.
Dafür erhält er eine „alternative” Frau, Miriam, die dem System, das
sein Vater repräsentiert, angemessen ist. Andererseits: Das Regime bietet
Willie Ruhm, sie tritt als Gegenleistung dafür als Star auf. Sie schmuggelt
einen Film, um Robert ihre Liebe zu beweisen in der Hoffnung, sich wieder mit
ihm zu vereinen („So woll’n wir uns da wiederseh’n”).
Fassbinder
gruppiert die Geschichte und seine Protagonisten um ein Lied. Die Person, also
das Subjektive, verschmilzt mit diesem Lied (Willie unterzeichnet Autogrammbilder
mit „Lili Marleen”). Diesem Vorgang sind das Ich zerstörende Momente inhärent,
doch zugleich gewinnt Willie durch diese Verschmelzung, diese Ineinssetzung
mit einem Lied Freiheit, ja sogar Widerstand (sie unterstützt Günther
Weisenborn, eine Hauptfigur des Widerstand, im Film gespielt von Fassbinder).
Dies ermöglicht Fassbinder, über die schale, in den 70er Jahren gängige
Gleichsetzung von Faschismus und Kultur – hier gleich Film, Kino, Hollywood
– eine eigene Position zu bewahren, bei der es darauf ankommt, in welcher Weise
die Zeichen und das Zeichensystem wirken, in welchem Kontext sie stehen, und
nicht allein darauf, ob ein Regime diese Zeichen instrumentalisiert oder instrumentalisieren
kann.
Das
Lied „Lili Marleen” verbindet – zumindest ist dies Inhalt des Films – die Protagonisten,
aber auch Kinopublikum und Star im Film, Schauspieler und Publikum, Lied und
Publikum und so weiter. Wie gesagt: Es ist kaum möglich – und wenn dann
ein Akt des gezielten Ausweichmanövers –, sich der Anziehungskraft von
Hanna Schygulla gleich Willie gleich Lili Marleen zu entziehen. Selbst als Henkel
nach Willies Selbstmordversuch sie zwingt, noch einmal vor versammelter Partei
aufzutreten und Willie, körperlich und seelisch geschwächt, hergerichtet
fast wie eine Leiche zur Beerdigung, vom Treppchen steigt, stolpert, sich aber
aufrecht hält, verbreitet dieser Star eine Anziehungskraft, die kaum kalt
lassen kann. Jetzt allerdings repräsentiert ihr Auftritt schon den Untergang
des Reiches. Den Kopf nach oben gehalten, die Augen geschlossen, blass, gibt
sie sich noch ein letztes Mal her. Aber auch in dieser Szene liegen Prostitution
und das Beharren auf Anders-Sein – und damit die Sprengkraft der gesamten Situation
des Krieges, der Vernichtung hier, der Liebe und des Widerstands dort – so nahe
beieinander, dass es die Vorstellungskraft des Betrachters fast sprengt und
ihn emotional zu zerreißen droht.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst - unter dem Autor-Namen Posdole - erschienen bei: ciao.de
(1)
„Lili Marleen“ (Musik: Norbert Schultze, Text: Hans Leip)
(2)
„Heute (da) (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“, neben
dem „Horst-Wessel-Lied“ wohl das bekannteste und berüchtigste NS-Lied.
Hans Baumann, Jahrgang 1914, Mitglied der Führung der Hitlerjugend, hatte
den Text als Gedicht verfasst. Der Text wurde von den Machthabern mehrfach geändert.
(3)
Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 240. Vgl. auch dort
die umfangreiche Analyse des Films, S. 239-280.
Lili
Marleen
Deutschland
1981, 120 Minuten
Regie:
Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch:
Manfred Purzer, Rainer Werner Fassbinder, Joshua Sinclair, unter Verwendung
von Lale Andersens „Der Himmel hat viele Farben“
Musik:
Peer Raben, Norbert Schultze („Lili Marleen“)
Director
of Photography: Xaver Schwarzenberger, Michael Ballhaus
Schnitt:
Rainer Werner Fassbinder, Juliane Lorenz
Produktionsdesign:
Rolf Zehetbauer
Darsteller:
Hanna Schygulla (Willie), Giancarlo Giannini (Robert), Mel Ferrer (David Mendelsson),
Karl-Heinz von Hassel (Hans Henkel), Erik Schumann (von Strehlow), Hark Bohm
(Taschner), Gottfried John (Aaron), Karin Baal (Anna Lederer), Christine Kaufmann
(Miriam), Udo Kier (Drewitz), Roger Fritz (Kauffmann), Rainer Will (Bernt),
Raúl Gimenez (Blonsky), Adrian Hoven (Ginsberg), Willy Harlander (Prosel),
Barbara Valentin (Eva), Helen Vita (Grete), Elisabeth Volkmann (Marika), Lilo
Pempeit (Tamara), Brigitte Mira (Nachbarin)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0082661
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