The Limey
Worum geht es in THE LIMEY? Wie bei allen großen Filmen gibt es
mindestens zwei Antworten auf diese Frage. Diejenige, die die
meisten Leute als erste erwarten, ist die langweilige - diejenige,
die die Geschichte beschreibt: Es geht um einen Engländer, der nach
30 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und sich auf macht nach
L.A. um den Mörder seiner Tochter zu finden und sich an ihm zu
rächen.
Es ist wahrhaft eine straight story, ebenso schnörkel- wie
kompromißlos. Aber in großen Filmen ist WAS (wenn überhaupt etwas)
erzählt wird meist bestenfalls zweitrangig. It's the singer, not
the song - auf das WIE kommt es an.
THE LIMEY ist ein großer Film, und worum es darin wirklich geht
beantwortet sich nur, wenn man dem Wie Beachtung schenkt.
Es ist ein Film voller Geisterstimmen, voller akustischer
Erinnerungen und Vorahnungen. Stimmen, die sich von den Körpern
lösen, die im Kopf der Hauptfigur Wilson (der grandiose Terence
Stamp) herumspuken, die sich aber auch durch die Montage von den
Bildern abspalten, zu denen sie gehören, die nicht dem Gesetz der
braven Lippensynchronizität gehorchen. (Wie die meisten wichtigen
Sachen, von denen hier die Rede sein wird, ist davon in der
deutschen Synchronfassung herzlich wenig übriggeblieben, wo man
sich bemüht hat, das Ganze wieder so glatt wie möglich zu bügeln.)
Es ist - und das hängt damit eng zusammen - ein Film gegen
geradlinige Chronologie. Nicht nur gewöhnliche Zeitsprünge wie
beispielsweise Rückblenden gibt es zuhauf: Steven Soderbergh
schneidet auch auf Mikroebene nicht am Zeitpfeil entlang. In
Dialogsequenzen wird vor- und zurückgesprungen, verschiedene Szenen
werden ineinandergeschnitten, kommunizieren über Ort und Zeit
hinweg miteinander. Fragen, die in einem Raum gestellt werden,
finden ihre Antwort in einem um Kilometer und Stunden entfernten,
der nur durch den Zauber der Montage unmittelbar herangeholt werden
kann.
Soderbergh knüpft da offensichtlich an an europäisches Kino der
60er, speziell wohl an Godard - Wilson kommt nicht umsonst aus
Europa und war als Gefängnisinsasse seit Ende der 60er quasi aus
der Welt. THE LIMEY ist auch ein Film über das Verhältnis von
Amerika zur "Alten Welt". (Und nachdem Soderbergh für seinen
netten, glatten OUT OF SIGHT - ein schöner, aber Soderberghs
belanglosester Film - mit Jahresbesten-Nominierungen überhäuft
wurde, strafte man den unangepassteren THE LIMEY in den USA mit
völliger Mißachtung.)
Ein vielleicht unauffälligeres Spiel mit Kino-Zeit als diese
Mikro-Sprünge, das Soderbergh treibt, ist aber noch radikaler: Wenn
Wilson/Stamp sich zurückerinnert, dann sehen wir Szenen aus Ken
Loachs POOR COW von 1967 - mit Terence Stamp. Das verletzt nicht
nur unsere Erwartung an die Geschlossenheit einer Fiktion, läßt
einen fremden Text eindringen, deutet ihn um. Es gibt auch einen
ganz unmittelbaren Stich (wer will, darf an Roland Barthes Gedanken
zu Fotografie und Tod in "Die helle Kammer" denken), denn das
Vergehen von 30 Jahren, das Altern, die Vergänglichkeit wird an
diesen Bildern und ihrer Differenz zu den "heutigen" von Terence
Stamp erschreckend greifbar.
THE LIMEY ist eine Suche nach der verlorenen Zeit und ein
Zwischending aus Essay und Meditation über die Zeit-Kunst Kino. Es
geht darum, wie Bilder bleiben und Körper vergehen, darum, wie Tote
auf der Leinwand weiterspuken können, darum, wo wir Sterblichen hin
sollen mit unserer Trauer in einer Welt solch technischer
Unsterblichkeitsapparaturen.
Es geht aber auch ganz konkret (und politisch) darum, was in den
letzten 30 Jahren passiert ist. Wo die Träume von 1968 hin sind,
wie wir von dort nach hier gekommen sind. Wilsons Gegenspieler
Valentine wird nicht umsonst von der EASY RIDER-Ikone Peter Fonda
dargestellt.
THE LIMEY ist ein Film zwischen Zorn und Resignation, ein Film
über vertane Chancen und die grausame Unmöglichkeit, sie zurückzuholen. Ein Film, der aber auch
versucht, einen Weg des Erwachsenwerdens, des Abfindens mit der
Unausweichlichkeit zu zeigen.
Dies alles kann nur Fingerzeig sein, will die Blickrichtung auf
Spannendes lenken. Will sagen, worum es bei THE LIMEY geht, um zu
den Fragen zu führen, die der Film selbst stellt. Beantwortet sind
diese Fragen des Films damit freilich noch nicht und werden es so
schnell nicht sein. Ich habe den Film erst einmal gesehen, und das
reicht dafür noch nicht. Betrachten Sie diesen Text vielleicht als
eine Art kleinen filmischen Reiseführer, der auf Sehenswertes
aufmerksam macht, ohne ihm allzusehr auf den Grund zu gehen.
Hinfahren und gucken müssen Sie selbst und werden vielleicht noch
ganz anderes entdecken oder zu anderen Schlüssen kommen. Auch das
gehört eben dazu, wenn ich sage: THE LIMEY ist ein großer Film.
Thomas Willmann
Dieser Text ist zuerst erschienen bei:
The Limey
USA 1999 - 90 Minuten -
Regie: Steven Soderbergh
Kamera: Edward Lachman
Drehbuch: Lem Dobbs
Besetzung: Terence Stamp, Peter Fonda, Lesley Ann Warren, Luis Guzmán u.a.