zur startseite
zum archiv
Lisztomania
Nach The Music Lover (in dem es um Tschaikowsky ging) und Mahler ist Lisztomania der dritte Film des englischen Regieexzentrikers Ken
Russell, der sich mit dem Leben eines Komponisten beschäftigt. Diesmal
hat es den ungarischen Klaviervirtuosen Franz Liszt getroffen, dessen Leben
Russell mit allen Attributen eines Rockstars versieht und in einem ausschweifend
grotesken Musicalbilderbogen mit pompös absurd ausgestatteten Sets, irgendwo
zwischen A Clockwork Orange und Flesh Gordon (mit „e“ wohl gemerkt), verfilmt.
Auf Liszts Konzerten finden sich Heerscharen junger Mädchen,
die zu „Franz Liszt“- oder „Flohwalzer“-Sprechchören anheben. Seine Groupies
wählt Liszt dann aber vornehmlich aus höheren Schichten aus. Die erste
Hälfte wird nicht in einer stringenten Geschichte erzählt, sondern
in lose zusammenhängenden Episoden, die den Komponisten in verschiedenen
Lebenslagen, mit verschiedenen Frauen an seiner Seite zeigen und für die
der Film jeweils eine eigene visuelle Gestaltung findet. Besonders hervorgehoben
sei hierbei eine Szene, die das junge Familienglück mit Marie D’Agoult
in einer italienischen Berghütte zeigt und die, angelehnt an Goldrausch, gleichzeitig Hommage und Satire auf Stummfilme und
Slapstick ist. In der Szene, in der kein Wort (hörbar) gesprochen wird,
fungiert Liszt als Chaplin-Imitator und seine Frau ist unter anderem damit beschäftigt,
Plüschherzen zu waschen, zum Trocknen aufzuhängen und (Puppen-)Babys
auf die Welt zu bringen.
Außerdem natürlich die (Alb-)Traum-Seance mit der Fürstin
Carolyn, in der sich Liszt mit ihr und der weiblichen Dienerschaft mit seinem
2-Meter-Gummischwanz vergnügt, der von der Fürstin, die übrigens
betont mütterliche Züge trägt, schließlich zur Unlust Liszts
unter die Guillotine kommen soll. Die Heirat mit ebenjener Fürstin wird
vom Vatikan untersagt. Liszt trennt sich von ihr, um Priester zu werden. Auch
das wird ihm nicht gestattet, da dem Klerus die Ehe seiner Tochter Cosima mit
Richard Wagner ein Dorn im Auge ist. Wagner, der zuvor vor allem als selbsternanntes
Genie und kommunistischer Rebell in Erscheinung trat, hat sich inzwischen auf
ein Schloss zurückgezogen, dessen reine Erwähnung die Anwohner in
Angst und Schrecken versetzt und komponiert dort heidnische Opern. Er ist gleichermaßen
Vampir (die Eckzähne passen übrigens wunderbar zum sächsischen
Dialekt, den er in der deutschen Synchro spricht) und mad scientist, der an der Herstellung eines künstlichen Menschen
arbeitet. Außerdem züchtet er sich eine Kinderarmee in Superheldenuniform,
die sich zum Walkürenritt aus dem Synthesizer kräftig be(haken)kreuzigen
und be(hitler)grüßen.
Der verschlafen wirkende Papst (gespielt übrigens von Ringo Starr,
der den tollen Satz sagen darf: „Die Wahrheit ist oft absurder als die Lüge.
Mit dieser Erkenntnis arbeiten wir seit fast 2000 Jahren.“) beauftragt Liszt
damit, Wagner den Teufel auszutreiben. Liszt schafft es, mit der Kraft seiner
Musik, das böse Mastermind im Tigerfellanzug zu töten, wird dann aber
selbst von Cosima per Voodoopuppe ins Jenseits befördert. Aus der Wagnerschen
Gruft erhebt sich nun ein Muskelprotz mit Seitenscheitel und Schnurrbärtchen,
der mit seiner Maschinengewehr-E-Guitarre nicht nur die Juden vernichtet, sondern
auch ganz Europa in Schutt und Asche legt, bis Herr Liszt und sein Frauensextett
sich im harfenförmigen Raumschiff zur Erde hinunterbewegen, ihn mit Laserwaffengewalt
vernichten und sodann in Richtung Horizont entschweben.
Nachdem der absurde Klang- und Bilderrausch verflogen ist, kommt,
wie so oft bei Russell, der Kater. Viele Fragen drängen sich auf: Hätte
die Beziehung wagnerscher Mythen zur nationalsozialistischen Ideologie nicht
auch, ja gerade, im Kino eine etwas differenzierte und subtilere Darstellung
verdient, als den Russellschen Holzhammer? Liszt, Wagner, Kirche, Sex, die gescheiterte
Revolution von 1848, die Nazis, so vieles wird hier angeschnitten und so wenig
ausgeführt. Wäre weniger da womöglich mal wieder mehr gewesen?
Wie weit unterscheidet sich, was hier zumindest ganz vordergründig auch
Komponistenbiographie sein möchte, von einschlägigen Sexklamotten
seiner Zeit, etwa eingangs erwähntem Flesh Gordon? Hinterlässt diese Art der „Beschäftigung“
mit dem dritten Reich vielleicht gar den selben
schlechten Nachgeschmack wie einige Exploitationfilme, die ein KZ als Kulisse
ihrer Folter- und Sexexzesse wählen? Fragen über Fragen, die sich
wohl nur mit einem eindeutigen und entschlossenen „Jein“ beantworten lassen.
Denn so wenig man Lisztomania von einem dieser Vorwürfe endgültig freisprechen
möchte, so ist er doch eine wahnwitzige und mitunter brüllend komische
Groteske voller opulenter Bilder und bescheuerter Kostüme und ein interessantes
Dokument seiner Zeit.
Nicolai
Bühnemann
Lisztomania
LISZTOMANIA
England - 1975 - 103 min. – Scope – Biografie - FSK: ab 18; nicht
feiertagsfrei - Verleih: Warner-Columbia - Erstaufführung: 7.5.1976 - Fd-Nummer:
19769 - Produktionsfirma: Visual Programme Systems - Produktion: Ron Baird,
David Puttnam
Regie: Ken Russell
Buch: Ken Russell
Kamera: Peter Suschitzky
Musik: Rick Wakeman, Franz Liszt, Jonathan Benson, Richard Wagner
Schnitt: Stuart Baird
Darsteller:
Roger Daltrey (Franz Liszt)
Sara Kestelman (Prinzessin Carolin)
Paul Nicholas (Richard Wagner)
Ringo Starr (Papst)
Fiona Lewis (Gräfin Marie)
Veronica Quilligan (Cosima Wagner)
Nell Campbell (Olga)
Imogen Clare (George Sand)
zur startseite
zum archiv