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Januar 1970, kurz nach dem Erlass der Notstandsgesetze durch die frankistische Regierung: In Madrid ward ein Kind geboren unterm (elektrischen) Weihnachtsstern. Und weil der Weg ins Krankenhaus zu weit war und er im Bus das (Neon-)Licht der Welt erblickte, dürfen der kleine Victor und seine Mutter, die Prostituierte Isabel (Penélope Cruz), für den Rest ihres Lebens den öffentlichen Nahverkehr von Madrid kostenlos nutzen.
20 Jahre später macht Victor (Liberto Rabal) von seinem Auserwähltenvorrecht
besonders dann exzessiven Gebrauch, wenn ihm etwas auf dem Herzen liegt, wie
seine „Beziehung“ zu Elena (Francesca Neri), mit der er kürzlich auf einer
Diskothekentoilette den ersten Sex seines Lebens hatte und die er unbedingt
wiedersehen möchte. Als er unangekündigt bei ihr zu Hause auftaucht,
zeigt sie sich wenig begeistert und fordert ihn mit vorgehaltener Pistole auf,
sie in Ruhe zu lassen. Im Handgemenge löst sich ein Schuss und eine Frau
fällt blutend zu Boden. Elena? Nein, der geht’s gut! Erschossen wurde nur
die Frau im Fernsehen, in Buñuels Ensayo
de un Crimen. Zu dumm nur, dass die Nachbarn
trotzdem die Polizei verständigen. Die Polizisten Sancho (José Sancho)
und sein jüngerer Kollege David (Javier Bardem) eilen zur Hilfe. Als Victor
Elena als Geisel nehmen will, entsteht wieder ein Handgemenge und wieder fällt
ein Schuss.
Unvermittelt findet sich der Zuschauer in einer Turnhalle wieder.
Aus flackerndem Kaminfeuer in grelles Neonlicht geworfen. Die Erzählung
wechselt von burlesker Suspense, die an Brian De Palma und schlechte Cops-and-Robbers-Serien
erinnert, in ein pessimistisches Drama. Zwei Jahre erzählter Zeit sind
zwischen dieser und der letzten Einstellung verstrichen. David wurde durch den
Schuss querschnittsgelähmt, ist Profi-Rollstuhlbaskettballer und mit Elena
verheiratet. Sanchos Ehe mit Clara (Angela Molina) läuft unverändert
schlecht. Als Victor, wiederum vier Jahre später, aus dem Knast entlassen
wird, eine Affäre mit Clara anfängt und David davon unterrichtet,
dass nicht er, sondern Sancho für seine Lähmung verantwortlich ist,
weil er wusste, dass seine Frau ihn mit dem jüngeren Kollegen betrügt,
eskalieren die Konflikte des Figurenquintetts.
Sarkastisch skizziert Almodóvar zu Beginn die Situation
des Franco-Regimes und im weiteren Verlauf beschäftigt er sich nicht zuletzt
mit den Spuren, die die Diktatur in der Gesellschaft hinterließ. Der gleiche
Staat, in dem Isabel offenbar eine sehr lückenhafte sexuelle Aufklärung
erhielt (das Platzen der Fruchtblase im Bus kommentiert sie mit dem Satz „bei
mir pinkelt alles raus“) und der auch sonst nicht viel für sie getan zu
haben scheint, ist sich natürlich nicht zu schade den kleinen Victor mit
Babykleidung zu versorgen und sich dafür im Fernsehen als großen
Wohltäter zu inszenieren. Im Verhältnis der beiden Polizisten spiegelt
sich der Konflikt zwischen alter und neuer Ordnung. Sancho, dessen Rechts- und
Geschlechtsverständnis auf der Ideologie des Faschismus beruht, bleibt
in der „neuen Zeit“ nichts als seine Verachtung und Verbitterung in Alkohol
zu ertränken und seine Aggression an seiner Frau Clara auszulassen. Diese
flieht vor seiner Brutalität in die Arme seines jüngeren und verständnisvolleren
Kollegen, der in der Entfaltung seines Glücks wiederum durch den älteren
„behindert“ wird. So symbolträchtig die Figuren und ihre Konstellation
auch sein mögen, Almodóvar liegt nichts ferner, als sie als eine
Art postmoderner Variante Eisensteinscher Typen aufzufassen. Bei allen historischen
Konnotationen geht es ihm doch hauptsächlich darum, ihre Geschichte zu erzählen.
Trotz aller Verspieltheit wird das Jonglieren mit Zeichen und
Zitaten niemals zum Selbstzweck. So wie die Szenen aus Buñuels Ensayo das Begehren Victors ausdrückt und auf die spätere
Schuldthematik hinweist, so ist es kaum zufällig, dass der Showdown, mit
einer Anspielung auf Hitchcocks Spellbound abschließt, einen der ersten Thriller, der im psychoanalytischen
Milieu spielt, und, wie es sich für einen solchen Film gehört, mit
der Überwindung eines Traumas endet. Die bunt glitzernde Oberfläche
aus Märchen und Sit-Com, Kino, Kitsch und Katholizismus, bildet einen ständigen
Kontrapunkt zu den gezeigten Lebensverhältnissen, zur tragischen Geschichte
Isabels, der Ruine der Ehe von Clara und Sancho. Aus der Künstlichkeit
der gezeigten Welt entwickelt Almodóvar immer wieder mit bewundernswerter
Leichtigkeit das authentisch Menschliche.
So auch am Schluss, wenn wieder ein Kind geboren wird, diesmal
nicht im Bus, sondern im Taxi, und wenn der Vater, Victor, seinem Sohn erzählen
kann, dass bei seiner eigenen Geburt die Leute sich in ihren Häusern verkrochen,
während die Straßen nun voller Menschen sind, weil man die Angst
in Spanien inzwischen überwunden hat. Das Weihnachtsmärchenpathos
wird zum Ausdruck ehrlicher und tief empfundener Hoffnung. Carne Trémula ist letztendlich vor allem ein hoffnungsvoller Film. Und einer
der besten, die der Regisseur bislang gedreht hat.
Nicolai Bühnemann
Live Flesh - Mit Haut und Haaren
(Carne Trémula)
Spanien/Frankreich 1997
Laufzeit: 103 Minuten
Regie: Pedro Almodóvar
Buch: Pedro Almodóvar, Ray Loriga, Jorge Guerricaechever
Darsteller: Penélope Cruz, Francesca Neri, Javier Bardem,
Liberto Rabal
Musik: Alberto Iglesias
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