Die Entdeckung der Schnelligkeit
Lola rennt - ein kleines großes Kinowunder
Eine junge Frau rennt. Sie rennt durch Berlin. Was sie
treibt, ist die Liebe. Und die Angst. LOLA RENNT, der dritte
Film des Berliners Tom Tykwer ist eine Lektion für das Kino.
Was es kann, sieht man hier. Und wie es sein sollte, auch.
Die Story könnte simpler nicht sein: Manni (Moritz
Bleibtreu) braucht Geld, viel Geld, und seine Freundin Lola
(Franka Potente) hat 20 Minuten Zeit, es zu besorgen. Das ist
alles. Das ist sehr viel. Denn Tykwer dehnt die 20 Minuten
auf über 80 und zeigt sie von mehreren Seiten. Die alte Frage
"Was wäre, wenn...?" scheint auf, der Sinn für das Mögliche
und die Relativität alles Irdischen wird geweckt - nach dem
Spiel ist vor dem Spiel: Ein tiefer, in manchem geradezu
philosophischer Film, der doch leichter kaum sein könnte.
Denn nicht behaupteter Tiefsinn dominiert, sondern der
Verzicht auf alles Überflüssige.
LOLA RENNT entdeckt die Schnelligkeit. Die durchgehende
Dynamik, die den Film beherrscht, ist nicht zu verwechseln
mit Ratlosigkeit. Immer wieder gibt es Augenblicke der Ruhe
und des Innehaltens, erst sie machen das Timing perfekt.
Tykwer schrieb auch das Drehbuch und den hervorragenden
Soundtrack. Ein Autorenfilm und deutscher TRAINSPOTTING ist
entstanden, der verspielt beweist, daß im Kino vieles möglich
und alles erlaubt ist. In perfektem Styling wird hier ganz
auf der Höhe der Zeit Wirklichkeit pur eingefangen und dem
Schicksal bei der Arbeit zugesehen. Gegen diesen Film sieht
alles andere, was in den letzten Jahren produziert wurde,
klein aus. Eine neue Generation tritt auf den Plan und setzt
einen Kontrapunkt zu allem, was am deutschen Film des
vergangenen Jahrzehnts ärgerte, und zu all den Wortmanns,
deren Kino verstaubt, langweilig, altbacken und ideenlos
wirkt.
LOLA RENNT ist ein kleines großes Kinowunder. Vor dieser
Leistung staunt man mit Ehrfurcht. Dabei erfüllt sich nicht
alles restlos, was Film sein kann. Aber sehr wohl beginnt man
zu ahnen, wie das Kino der Zukunft aussehen könnte.
PS:
Manchmal gibt es Filme, die einen einfach nur glücklich
machen. LOLA RENNT ist nach langer, langer, langer Zeit der
erste deutsche Film, dem das (bei mir) gelingt.
Was mich aber -nach dem Film ist vor dem Film- interessieren
würde, zumal das hier keiner von uns angesprochen hat, ist,
wie die Besucher sich den Film danach deuten (Tom Tykwer
will, daß Ihr redet und denkt ! (vgl.Interview)). Antworten
willkommen ! Für Interessierte seien hier 3 mögliche Modelle
kurz skizziert:
1. Die naheliegende Parallelmontage. Gezeigt werden 3
Varianten einer Geschichte, die gleichrangig nebeneinander
stehen.
2. Die Traumdeutung: der erste Teil ist die Realität, Lola
träumt im Sterben zwei Rettungsmöglichkeiten. Wer Ambrose
Bierce' Story "Die Brücke am Elk Creek" kennt, weiß, wie ich
das meine. Darum das Rot, darum der Schrei, darum die
fliegende Tasche auch vor dem dritten Teil.
3. Die religiöse Variante: Am Anfang ist das Wort, und das
Wort ist bei Gott = Hans Paetsch. Zwei Modelle des Scheiterns
der Liebe werden in den ersten beiden Teilen präsentiert:
Jeweils die Person, die zur Waffe greift, wird mit dem Tod
des/der Geliebten bestraft. Im dritten Teil (Trinität) greift
niemand zur Waffe, Lola betet, heilt madonnengleich einen
Todkranken im Notarztwagen, wird von den Engeln des Herrn zur
Spielbank gelenkt, vertraut dort auf Gott - und gewinnt in
jeder Hinsicht. Die Wette Pascals.
PPS:
Noch eine Frage, ihr klugen Kinogucker: Warum setzt sie auf
die 20 ??
Rüdiger Suchsland
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:
artechock : FILM- UND KUNSTMAGAZIN
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-Archiv mehrere Kritiken.