zur startseite
zum archiv
Lost Highway
Ein endloses geflochtenes Band
Lange hat sich
David Lynch Zeit gelassen, um einen neuen Film vorzulegen. Konnte es eine
Rückkehr nach Lynchville, eine Variation seiner ästhetischen und narrativen
Leitmotive geben, oder musste der Regisseur einen Schritt in eine für ihn neue
Welt und zu einer neuen Sprache wagen? Die Antwort ist ganz und gar typisch für
diesen Autor: LOST HIGHWAY ist beides gleichzeitig.
Noch mehr als in
den vorherigen Filmen hat man zunächst den Eindruck, es nicht mit einem
narrativen Geflecht der Bilder in der «Sprache des Films» zu tun zu haben,
sondern mit übereinander geschichteten Bildern, die jede ihre eigene Geschichte
erzählen (oder auch nicht) und in ihrer strengen Komposition nicht verschwinden
wollen. Die einzelnen Einstellungen ergänzen einander weniger, als dass sie
miteinander "sprechen", und es ist ein Dialog, der das Befremden
nicht verhehlen will.
Wenn man, sehr
schnell und vorläufig, beschreiben will, worum es in LOST HIGHWAY geht, könnte
man von der Geschichte eines schizophrenen Mörders ausgehen, der nicht nur
mental, sondern ganz direkt materiell in eine andere Person schlüpft. Der
Saxophonspieler Fred Madison und seine Frau Renee leben in einem sehr kalten,
luxuriösen Haus; ihre Beziehung zueinander, das erkennen wir schon in den
ersten Sequenzen, ist nicht die allerbeste Fred erhält eine mysteriöse
Nachricht über das Haustelefon: «Dick Laurent is dead.» Weder weiss er, wer
Dick Laurent ist, noch wer ihm diese Nachricht zukommen lassen wollte. In den
nächsten Tagen erhalten die beiden seltsame Videokassetten, auf denen zunächst
nur ihr eigenes Haus zu sehen ist. Dann aber erkennen sie, dass der Autor dieser
Videobilder auch in das Haus selber eingedrungen sein muss und sie beide im
Schlafzimmer aufgenommen hat. Und nachdem Fred auf einer Party bei Andy (einem
Mann, zu dem Renee möglicherweise mehr als freundschaftliche Beziehungen hat),
einen geheimnisvollen Mann kennengelernt hat, der behauptet, zugleich in seinem
Haus zu sein, und zwar auf seine, Freds "Einladung" hin, und dies
auch durch einen Telefonanruf beweisen kann, sind die Madisons dem Eindringling
ausgeliefert. Fred sieht das letzte Video an; es zeigt die Ermordung seiner
Frau. Buchstäblich mit einem Schlag wechselt die Szene zum Verhör der Polizei:
Fred Madison ist angeklagt, seine Frau getötet zu haben, er wird für schuldig
befunden und zum Tode verurteilt.
Aber eines
morgens - Fred hat über heftige Kopfschmerzen geklagt und sich vom
Gefängnisarzt ein Schlafmittel verabreichen lassen - sehen die Wächter nicht
mehr Fred Madison, sondern einen völlig anderen Mann in seiner Zelle. Es ist,
wie die Recherchen der Polizei ergeben, der junge Pete Dayton, ein Mechaniker,
der gerade einmal wegen eines Autodiebstahls in Konflikt mit dem Gesetz geraten
war. Seine Eltern holen ihn ins typische Vorstadthaus zurück, er nimmt seine
Arbeit in «Arnie's Garage» und seine Beziehung zu seinem Girlfriend Sheila wieder
auf, aber es bleibt ein dunkler Punkt in seiner Vergangenheit, etwas, worüber
weder seine Eltern noch seine Freunde sprechen können. Sein bester Kunde ist
der Pornoproduzent und Mafiagangster Mister Eddy, dem er die Mercedes-Limousine
pflegt Als Mister Eddys Freundin Alice Wakefield sich an Pete heranmacht und
Mr. Eddy schliesslich hinter die Sache kommt, wird es für die beiden
gefährlich. Nachdem Alice Pete zu einem Überfall mit tödlichen Folgen auf ihren
Bekannten Andy angestiftet hat, fliehen sie in die Wüste. Und dort geht mit
Pete wieder eine Verwandlung vor.
Ein
übersinnlicher, psychotischer Thriller mit logischen Schleifen, die nicht mehr
in einer linearen Erzählweise aufzulösen sind, bebildert mit den typischen
"Lynchismen", verbunden mit dem Klang-Design von Lynch selber, den
Kompositionen von Angelo Badalamenti und der Musik von David Bowie (der mit
«I'm Deranged» den Ton vorgibt), Smashing Pumpkins und Rammstein. In Frankreich
löste der Film hymnische Begeisterung aus, beim Sundance Festival in den USA
wurde er ausgepfiffen. Doch diese neuerliche Reise in die Schattenseiten der
Seele und die dunklen Bereiche, die jenseits der integralen "Person"
liegen, ist mehr als Lynchs frühere Filme zugleich auch eine Untersuchung über
die eigenen Mittel, ein Film, der vielleicht am ehesten mit Douglas R.
Hofstadters Buch über «Gödel, Eschel Bach» zu verstehen ist, als cineastischer
Versuch über Selbstbezüglichkeit und das endlose geflochtene Band.
Wieder, so
scheint es, verweigert sich die Repräsentation dem Repräsentierten und lässt
diese nicht den Hauch von "Natürlichkeit". Das Lynchsche Kino-Bild
verweist nicht auf ein hinter ihm liegendes Leben, sondern es reproduziert sich
in selbstbezüglichen Schleifen selbst. Beide, die verstärkende und die
kontradiktorische "Übertreibung" in der Inszenierung, der Meta-Kitsch
und die Paradoxie, vollziehen den radikalen Bruch mit dem harmonischen
Gleichklang von Abbild und Sinnbild auf der Leinwand. Statt das Leben
abzubilden (in welchem Maßstab und mit welcher Absicht auch immer), bringen die
Filmbilder bei Lynch ein anderes Leben hervor. So wie ein selbstbezüglicher
Satz (wie man ihn bei Douglas Hofstadter findet) nicht nur in endlose
Bedeutungsschleifen führen kann («Der zweite Satz dieses Textes ist gelogen.
Der erste Satz dieses Textes ist wahr. »), sondern sich zum eigenen Subjekt
machen kann («Ich bin ein Satz ohne Aussage!»), so machen sich Lynchs
Filmbilder zu einem Gegenüber. Sie haben keinen "Inhalt", sie sind
ihr Inhalt. Damit geht Lynch einen entscheidenden Schritt über das hinaus, was
jeder gute Filmemacher tut, nämlich eine eigene Bildwelt zu schaffen, die auf
eine bestimmte Art der "wirklichen" Welt parallel ist (wir sprechen
dann gerne von einer «Logik des Traums») und ebenso in sich stimmig wie
bewohnbar. Lynchville dagegen entsteht aus unbewohnbaren Bildern, aus Bilder,
denen es vor sich selber graut.
Wären die Bilder
in Lynchs Film Sätze, so würden sie gewiss von sich behaupten, nichts anderes
als sich selbst zu kommentieren, und eben darin würden sie zugleich lügen und
die Wahrheit sagen, denn die Selbstbezüglichkeit in einem ästhetischen System
hebt ihr Sprechen über die Welt - und über seine Urheber - nicht einfach auf,
führt es aber gleichwohl auf eine höhere Ebene, auf der "Ich", zum
Beispiel, drei Dinge gleichzeitig bedeuten kann, nämlich den Autor, das Subjekt
der Erzählung und das ästhetische Mittel - den "Satz" oder die
Sequenz etwa.
Die Bilder also
bestehen aus Bedeutendem, das seine Beziehung zum Bedeuteten nicht in einer
linearen Beziehung offenbart, sondern nur in mehrfachen Kreisbewegungen durch
die Bilder selbst. Um eine Sequenz des Filmes zu "verstehen", muss
ich sie nicht nur in Beziehung mit anderen setzen, wie Wir es gewohnt sind,
sondern sie mehrfach an anderen Sequenzen und schliesslich an sich selbst
spiegeln. Was uns andererseits dieses Verständnis auch wieder leicht macht, ist
die Komposition der Selbstähnlichkeit. Die hypertrophen Steh- und Wandlampen
und ihr dysfunktionaler Lichtwurf in den Lynch-Filmen (und übrigens auch im
bildnerischen Werk des Autors) bedeutet nicht «schummriges Licht»/«unklare
Verhältnisse» als Sinnbild, oder «altmodische Lichtquellen»/«vierziger oder
fünfziger Jahre» als Abbild, noch sind sie schliesslich an eine distinkte
Stimmung in unserer Kino-Konvention («Bedrohlichkeit»/ «Heimeligkeit»)
gebunden. Das heisst in der Objektsprache des Kinos sind sie weder das, was man
«konventionalisierende Objekte» nennen kann (Objekte, die uns davon überzeugen
sollen, dass wir in einer bestimmten Wirklichkeit leben, die sich räumlich und
zeitlich, aber auch kulturell und sozial zuordnen lässt), noch das, was man
«bedeutende Objekte» nennen kann (Objekte, die für die handelnden Personen und
für die Konstruktion der Handlung von Bedeutung sind), noch schliesslich sind
Sie leere Objekte (also Objekte, die für sich genommen keine Bedeutung haben,
aber die Handlung in Bewegung sehen, wie der magische Ring des Märchens oder
der Hitchcocksche «MacGuffin»). Diese Lichter also, ein Beispiel für das Lynch-Objekt,
bekommen vielmehr ihr eigenes Leben in der Dynamik der Komposition. Sie
"sprechen" nur über das Filmbild selber, und dies möglicherweise in
einer bildhaften Variation unseres paradoxen, selbstbezüglichen Satzes: «Ich
bin eine Lichtquelle ohne ein zu beleuchtendes Objekt». Woraus folgen mag: «Ich
werde mir selber zum Thema». Anders gesagt, diese paradoxen Lichtquellen (die
zu den unabdingbaren Motiven in der Lynch-Ikonographie gehören) beleuchten
nichts, was in einem Zeichensystem jenseits des Films "Sinn" ergeben
könnte. Sie sind damit Zeichen ihrer selbst zugleich aber, in einem
ästhetischen System der Selbstähnlichkeit, "Abbildungen" der
ästhetischen Methode des Lynch-Filmes selber. Auch er will nichts (mit den
Mitteln des Films) "beleuchten", sondern ein sich selbst
reproduzierendes System schaffen, das sich - eine weitere Paradoxie! - eben der
in der Wirklichkeit verborgenen, "verbotenen" Formen struktureller
Selbstbezüglichkeit (Inzest, Psychose, Vision, Selbstmord et cetera) bedient.
Mit LOST HIGHWAY
tritt das Kino des David Lynch in eine neue philosophische Phase. Zum ersten
Mal stellt es seine Methodik, seine innere Struktur, seine Grammatik (neben der
Lynch-Zeichenlehre) zur Disposition.
Wieder haben wir
es mit den Kompositionselementen zu tun, die wir kennen. Zelebrierte, über
betonte Dialoge, die Kneipe als seltsames Zwischenreich, das nächtliche Blau
der Neonreklame, die dunklen Räume, in denen Lampen das Licht an die
unpassendsten Ecken werfen, die unbestimmten uteralen Geräusche, das Flimmern
der Bildschirme, die vergeblichen Versuche, einander zu berühren, das «doppelte
Fading» in eine Dunkelheit hinein, in der man mehr ahnt als erkennt, das
angestrengte Sehen und Lauschen der Figuren auf eine unbestimmte Nachricht aus
dem Irgendwo, die Nahaufnahmen von Maschinen und Gestänge, von Augen und Ohren,
die Reisen der Kamera, vom Körper hinweg über die zerklüfteten Landschaften,
der Wechsel von Rot und Blau, die Erscheinungen der rätselhaft dunklen und der
feenhaft hellen Frau (die doch nur Verwandlungen voneinander und ineinander
sind), das Eindringen in die geschlossenen Räume, Verwirrungen auf Hotelfluren,
die so unterschiedlichen Bewegungsmelodien verschiedene Figuren. (David Lynch
dreht seine Filme nicht in der gleichbleibenden Geschwindigkeit von 24 Bilder
pro Sekunde; er wählt für jede Einstellung die dazu passende Geschwindigkeit
der Aufnahme.) Kein Zweifel: wir sind in Lynchville.
Und wir sind es
doch nicht. Die Dinge haben, so wird schnell deutlich, ihren fremdartigen Reiz
verloren, sie sind zu einer schwermütigen Alltäglichkeit geworden. Es wird
nicht darum gehen, sie noch einmal auszustellen. Lynchismen werden nun
gleichsam beiläufig präsentiert; sie sind, noch ein mal, vom Inhalt zur Form
geworden. Jenes Befremden, das etwa in BLUE VELVET
oder «Twin Peaks» die Konfrontation des
Alltäglichen mit dem Grausamen, das Märchen und die Psychoanalyse auslösten,
ist nun zur Basis der Erzählung geworden. Lynch benutzt seine eigene Sprache
und seine eigenen Film-Erzählungen so, wie er in WILD
AT HEART eine Outlaw-Teenager-Love-Novel als Kompositionsmaterial gebraucht
hat.
Was ist LOST
HIGHWAY? Es ist definitiv kein Road Movie, auch wenn jene Einstellung auf die
gelben Mittelstreifen des Highway, die wir aus BLUE VELVET kennen, visuelles
Leitmotiv und Strukturmerkmal geworden ist. Im Gegenteil, es ist ein Film der
Bewegungslosigkeit, der Ortlosigkeit. Es ist, als würden sich ERASERHEAD und BLUE VELVET in einen endlosen Dialog
verdrehen, als würde eine Filmerzählung, vom Virus der Selbstbezüglichkeit
befallen, sich vor unseren Augen auflösen. Und es ist ein mehrfach gebrochener
längerer Tagtraum, der - so behauptet jedenfalls David Lynch - seinen Ausgang
in einem wirklichen Geschehen nimmt: Tatsächlich hat irgendjemand eines Tages
bei David Lynch ins Haustelefon die Worte «Dick Laurent is dead» gesprochen,
tatsächlich war, als er aus dem Haus sah, niemand mehr da, und tatsächlich
kennt David Lynch niemanden, der Dick Laurent oder so ähnlich heißt. Ein
alltägliches Missverständnis und ein philosophischer Fallstrick - manchmal ist
beides ganz nahe.
Das Leben in
Lynchville ist moderner und kälter geworden, immer noch gibt es die seltsamen
Pflanzen an den kahlen Mauern, aber sie sind dezenter geworden. Das Haus ist
eine einzige Festung, die Fenster erscheinen wie Schießscharten, alles scheint
abweisend und karg, aber auch von einer seltsamen klaren Schönheit. Nicht mehr
die entrückten Americana des ins Abgründige übertriebenen Saturday-Post-Stils
eines Norman Rockwell, die Luftlosigkeit eines Edward Hopper dominiert.
Wir sehen
zunächst nichts anderes als eine schreckliche Entfremdung im Leben eines jungen
Paares. Alles, was dazu gehört, können wir genau beobachten (während andere
Vorgänge der Beobachtung in unsere eigenen Beobachtungen interferieren): die
Schwierigkeiten, miteinander zu sprechen, sexuelle Probleme, die Spiele der
alltäglichen Gemeinheiten auf einer Party, das Misstrauen und die Lüge. Und wie
wir es aus einem Thriller gewohnt sind, kulminiert diese Entfremdung in einer
Tötungsphantasie. Oder genauer gesagt in drei miteinander verzahnten
Tötungsphantasien: die untreue Frau, ihr Liebhaber und der sadistische
"Vater" sind die Opfer, und ein Mord erscheint wie die Sühne für den
anderen.
Aber das Band der
Geschehnisse flicht sich vollkommen anders als gewohnt, anders auch, als es bei
David Lynch gewohnt ist. Aus der seelischen und partnerschaftlichen Krise
ergibt sich eine Zeitschleife, die keinen wirklichen Weg mehr nach außen sieht.
Das geht auch sehr viel weiter als das Spiel «Erst die Antwort, dann die Frage»
bei Quentin Tarantino.
Am Beginn erhält
der Held eine Nachricht, mit der er noch nichts anfangen kann, am Ende wissen
wir, dass er selber diese Nachricht gesprochen hat. Er existiert also am Ende,
wie der Mann mit dem weißen Gesicht, der ihn auf der Party angesprochen hat,
zweimal, wobei weder klar ist, welche Existenz Original und welche Abbild,
welche Vergangenheit und welche Zukunft ist. Der Film beschreibt allerdings
auch keinen einfachen Kreis; er könnte nicht eben dort wieder anfangen, wo er
geendet hat, statt dessen könnte er endlos weitergehen, würde sich aber bei
jeder Umdrehung vollkommen verändern. Wenn man so will, funktioniert er also
wie eine Escher-Grafik, der man die Dimension der Bewegung gibt.
Während die
narrative Konstruktion des Filmes sich also in einem endlosen geflochtenen Band
der Paradoxien bewegt, die Bildwelt der Objekte, Farben und Bewegungen in
beständiger Selbstreflexion arbeitet, lässt sich der Film auch in ganz
unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen "lesen" (oder auch
"nicht lesen"). Zunächst funktioniert Lynchs Film als eine
Entfremdungsphantasie; ein Mann, der um seine sexuelle Potenz fürchten muss,
wird von seiner Frau betrogen und ermordet sie (oder: In Mann träumt, wie ihn
seine Frau betrügt, wie er sie dafür ermordet und wie er dafür bestraft wird).
So erscheint der Film auf der zweiten Ebene als durchaus folgerichtige
Fortschreibung der magischen Biographie jenes Mannes, den wir als «nicht zu
Ende geborenen» immer näher in Lynchs Filmen kennengelernt haben. Wir können
uns fragen, was aus Sailor und Lula aus WILD AT HEART
geworden sein mag, oder aus Jeffrey und Sandy aus BLUE
VELVET. Denn deren Dämonen waren ja nie am Ende des Films wirklich aus der
Welt geschafft; der Friede war immer überdeutlich als trügerische Inszenierung
zu durchschauen. Ein Ehepaar, das seinen Familienroman, die Erinnerung an die
dunklen Pfade, die man gegangen ist, und eine glücklose Verbürgerlichung zeigt.
Und um die eigene Entfremdung und die eigene Schuld zu verstehen, muss der
nicht zu Ende geborene Held noch einmal in seine Vergangenheit reisen. Dort
versucht er so verzweifelt wie vergebens, alle seine Erfahrungen umzukehren
(der zweite Teil ist demnach nichts anderes als eine Reise durch die Alpträume
der Lynch-Filme, die sich um so mehr beschleunigt, je mehr ihr Protagonist sie
zu revidieren versucht).
Gewiss begegnen
sich in dem Raum, den LOST HIGHWAY bildet, auch mehrere tote Menschen, die
dort, wie in dem roten Raum in «Twin Peaks»
und FIRE WALK WITH ME, versuchen,
einander zu erlösen (oder zu verdammen). Im übrigen hat jede der drei
Hauptfiguren sowohl eine metaphorische als auch eine "reale"
Todesszene. Wie in unserer fundamentalen Vorstellung unterhalb dessen, was man
"Religion" nennt, verlagert sich das Geschehen in ein Jenseits, wenn
die Widersprüche und Schuldverstrickungen der Menschen zu groß geworden sind.
Wie auch immer: es gibt sehr unterschiedliche Arten zu erklären, wie sich
Menschen in Geister verwandeln und umgekehrt.
Auf der nächsten
Eben ist LOST HIGHWAY ein «phantastischer Film», der freilich die grundlegende
Dramaturgie des Genres außer Kraft setzt, nämlich dass das Phantastische eine
Kraft ist, die (aus moralischen Gründen in der Regel) in das Alltägliche
einbricht, um nach erheblichen Opfern und Ansprüchen (für den Augenblick
jedenfalls) wieder daraus vertrieben zu werden. Tatsächlich verknüpfen sich das
Phantastische und das Alltägliche zu einer Meta-Struktur, die eine Aussage im
Sinne eines paradoxen Satzes bedeckt. (Aus «Dieser Satz ist eine Lüge» wird im
Kino eine Form der Erzählung, die als einzig möglichen Weg zur Wirklichkeit die
Wahnvorstellung zeigt.) Die selbstreflexive Ästhetik des Films beschreibt also
eine Paradoxie der Art: Das Normale ist die Innenseite des Phantastischen. Oder
umgekehrt, je nachdem an welcher Stelle wir uns im wohlbekannten geflochtenen
Band befinden.
Was das
Phantastische anbelangt, könnte sich der Film als eigenwilliges Exemplar jenes
Subgenres deuten lassen, in dem es darum geht, dass einer bürgerlichen Familie
das eigene Haus zur Falle und zur Obsession wird. Es erweist sich stets als
labyrinthischer, als es gedacht war, es entwickelt seine geheimen Räume, löst
die Perspektiven auf und lässt die Menschen ehe gefährliche Wandlung
durchlaufen, an deren Ende sie sich gegenseitig zu Mördern werden. Das Haus
wird zum Geburts- und Todesraum, es wird aber auch zu einer Festung, in die der
Feind schon eingedrungen ist, bevor sie richtig fertiggestellt oder bewohnt
wird. Eine beobachtende Instanz also ist in dieses Haus gedrungen, dringt immer
wieder ein, das zugleich eine symbiotische Gemeinschaft mit dem Mann hat.
"Es" nimmt wahr, was Fred nicht wahrnehmen kann.
Auf die Moralität
des Phantastischen scheint der sich spaltende Geist hinzuweisen, wenn er
behauptet, Fred habe ihn eingeladen. Tatsächlich wird ja im Phantastischen das
Böse immer auf eine gewisse Weise "eingeladen", und dieser Geist, der
ja möglicherweise dann auch den Mord begehen wird, ist vielleicht nichts
anderes als das in Fred lauernde mörderische Böse. Dies mag die
Edgar-Allen-Poe-Ebene des Filmes sein.
Als drittes
Erklärungsmodell ergibt sich die Genese einer Schizophrenie, deren jeweilige
Schübe stets ausgelöst werden durch das Verhalten der Partnerin. Man könnte
diese Ebene der Erzählung die Dostojewskij-Ebene nennen, die innere Schilderung
einer Auflösung von Person, Perspektive und Wahrnehmung. Für diese Perspektive
ist möglicher weise die "Geburt" der einen aus der anderen Figur auch
auf einer sozusagen grammatischen Ebene von Bedeutung. Dostojewskij gibt in
seinem "polyphonen" Roman seiner Figur eine vollkommen neue Freiheit,
jene «ernsthaft verwirklichte und konsequent durchgeführte dialogische Position,
die die Selbständigkeit, innere Freiheit, Unabgeschlossenheit und
Unentschlossenheit des Helden anerkennt. Der Held ist für den Autor nicht
"er" und nicht "ich", sondern vollwertiges "du",
das heisst ein anderes, fremdes vollberechtigtes "Ich" "du
bist"» (Michael Bachtin). Auch wir müssen die Selbständigkeit,
Unabgeschlossenheit und Unentschlossenheit des Helden - oder beider Helden -
akzeptieren, können weder uns mit ihm identifizieren (ich bin - beinahe und für
den Augenblick - er), noch uns von ihm zu einer nüchternen Beobachtung (er ist
- bei nahe und für den Augenblick - Objekt meines Wissens und meiner Neugier)
zurückziehen. Und keineswegs kann sich der Betrachter auf jene Zeit
zurückziehen, die beruhigend das Geschehen ordnet: «Es war einmal».
Die Schizophrenie
des Mörders breitet sich über seiner Erzählung aus; es ist, als verwandle sich
stets eben jener abgespaltene Teil der Person in den Erzähler, der als Fremder
zum Wesen außerhalb seiner selbst werden musste. (Das heißt auch: jeder
schizophrene Schub produziert auch einen neuen Autor, der mit den wenigen
konstanten Größen immer neue Geschichten erzählen kann, deren Antriebskraft
nichts anderes ist als der doppelte Wunsch, seinen mörderischen Impulsen zu
folgen und sie zugleich nicht wahrzunehmen.)
Noch einmal in
Analogie zur Literatur gesagt (und ohne sie zu weit treiben zu wollen): David
Lynch zerstört das, was wir den cinematographischen Horizont nennen können, was
nicht nur das Zurechtfinden im Newton-Kosmos, die lineare Konstruktion der Zeit,
die Eindeutigkeit des Raumes und die Identität (das mit sich selber eins sein)
der Person voraussetzt, sondern auch die Grammatik der Identifikationen.
"Schizophrenie" ist daher auch die Rationalisierung einer
künstlerischen Methode, diesen Horizont zu überschreiten; der Mensch, der nicht
einer ist, muss letztlich auch die Sprache und den Blick verändern und den
cinematographischen Horizont zum Verschwinden bringen (jedenfalls wenn wir
diese Schizophrenie nicht in der Konstruktion des klassischen Thrillers als
"Fall" vorgesetzt bekommen: Norman Bates mag uns verwirren, aber er
bestätigt noch in seinen wüstesten Schüben von mörderischem Rollentausch die
Existenz des cinematographischen Horizonts, unter anderem, weil uns Hitchcock
nie die Verwandlung eines "er" in ein "du" anbietet,
allenfalls in gewissen Szenen mit dem "ich" kokettiert).
Auf der nächsten
Ebene allerdings weisen die Dinge so sehr aufeinander zurück, dass die
Vorstellung schizophrener Schübe, die ja nur dargestellt werden könnte durch
die Konstruktion eines tatsächlich "identischen" Punktes (auch wenn
sie nicht explizit im Film vorkommen müsste), zunehmend verschwindet. Eben
dieser Punkt wird nicht erreicht, vielmehr wird eine Kette entwickelt, die
unendlich Ursachen und Wirkungen aneinander reiht, so dass nicht allein zuerst
die Antwort, dann die Fuge entsteht, sondern die Beziehung von Ursache und
Wirkung vollends aufgehoben wird: was wie die Wirkung einer Handlung scheint,
erweist sich zugleich als ihre Ursache (wie die zunächst scheinbar kryptische
Botschaft vom Tode Dick Laurents), und was in der einen Phase dieser wahrhaft
unendlichen Geschichte Subjekt, das ist in der anderen Objekt. Wie könnten wir
sagen, der Film "handle" von einem schizophrenen Mörder, wenn er sich
doch so offensichtlich selbst von Schizophrenie infizieren lässt. Genausogut
wie ich sagen könnte, dies sei ein Film über einen schizophrenen Mörder, könnte
ich sagen, dies sei ein mörderisch schizophrener Film über einen übermüdeten
Saxophonspieler.
Wie für
Raskolnikoff ist es für den Helden undenkbar zu sagen, «ich wusste nicht» (denn
was er nicht weiß, ist nicht Teil seiner Welt, und eine andere kann es nicht
geben); er ist keiner; der die Wahrheit sucht, sondern einer wie Dostojewskijs
Held, der sie schon immer in sich hat, und der sich selber nicht sehen kann,
ohne sich im Blick des anderen zu sehen, wie der «Doppelgänger», der sich im
Spiegel als bleich und böse sieht, und darüber erfreut ist, weil
"sie" ihn so sehen wird. Wie bei Dostojewskij geschieht die
Verwandlung des Mannes für den Blick der abwesenden Frau.
Während der Mann
nicht mehr einer sein kann, unter dem Druck des Verrates, des Mordes und der
Strafe, ist die Frau die eine, die sich mehrfach geben kann. Sie teilt sich vor
der phallischen Macht des Mannes, und insofern sagt sie nichts als die reine
Wahrheit, wenn sie zu Pete sagt, er werde sie nie "haben". Denn das
Begehren selber bringt sie zum Verschwinden. (Natürlich steckt auch in dieser
Konstruktion, gleichsam als Meta-MacGuffin, die Kastrationsangst des Mannes,
der über die unterschiedlichsten Ebenen der Erzählung hinweg immer wieder zu
neuen phallischen Objekten greift, mit denen er auf die eine oder andere Weise
das Band zu zerstören versucht, das ihn festhält; um es sarkastisch
auszudrücken: Für den nicht zu Ende geborenen Mann ist das endlose geflochtene
Band der Selbstbezüglichkeit auch eine verknotete Nabelschnur.)
So ist, noch eine
Spirale weiter, LOST HIGHWAY das komplementäre Band zu «Twin Peaks», das unter
dem Zeichen des Weiblichen stand, Geburt und Tod, Körper und Magie, während
LOST HIGHWAY unter dem Zeichen des Phallus steht, Blick und Sprache, Maske und
Konstruktion. Und so wie uns schon der Name «Twin Peaks» auf den weiblichen
Körper geleitet hat in den Eingangssequenzen überdies die symbiotische Wärme
und die Entfremdung von ihr deutlich wurde, so ist nun der Name dessen, um den
alles geht, Dick Laurent, ein überdeutlicher Hinweis auf die phallische
Bedrohung.
Es ist keineswegs
die femme fatale, die den Helden zum
Bösen und/oder zum Wahn führt, es ist sein Blick auf die Begehrte, der endlos
zurückgespiegelt wird. Dostojewskijs Held kann die Stimme des anderen, die
Stimme des «Mannes aus dem Untergrund» nicht vollkommen außer sich sein lassen,
aber er kann auch nicht vollkommen seine Stimme mit der seinen verschmelzen
lassen; der Held von LOST HIGHWAY kann den Blick des anderen nicht außer sich
sein lassen, aber er kann den Blick auch nicht vollständig mit dem seinen
verschmelzen. So bestimmt eine Interferenz der Blicke das Geschehen, die
"Person" formt sich (und deformiert sich) im Blick des anderen (der
unter vielem anderen ja auch eine Parodie des "Autors" ist, eben
jener Instanz, der es tatsächlich nicht die geringste Mühe macht, an mehreren
Stellen seiner Schöpfung gleichzeitig zu sein, und der immer wieder die
Handlung für seine Figuren übernehmen kann).
Und tatsächlich
wirkt der "Autor" (das Unbewusste und das Überbewusste der Figur) nur
noch wie ein wissender Kobold; er ist in der Tat nicht mehr so sehr der
Schöpfer, sondern der Dekonstrukteur seiner Figuren. Diesem Autor als Zerstörer
(oder listigem Rekonstrukteur) ist Fred mit seiner monologischen Konzeption der
Kunst, die wir in seinem Saxophonspiel erlebten und die er sich und den
Polizisten zu erklären versucht in der Art, frei mit den Bildern seiner
Erinnerung umzugehen, nicht gewachsen. Gleichwohl wird er, noch einmal eine
Ebene tiefer, auch Opfer dieser monologischen Konzeption. Man kann LOST HIGHWAY
also auch als Abbildung des Ringens einer Figur mit seinem Autor ansehen, der
mindestens so unfertig und unentschlossen ist (und daher: so frei) wie sie
selber.
Wie für den
Helden von BLUE VELVET geht es auch für Fred darum, in einen weiblichen Raum
einzudringen, der vor bösen Machtspielen strotzt, in dem die Frau zugleich
Opfer und Täterin ist (ganz so als würde jedes Eindringen in den weiblichen
Raum immer auch die Erscheinung des gewalttätigen Vaters evozieren), die
zwischen Korruption und Kastration schwankt, deren Geheimnisse doch immer
weiter verschwinden, je näher sie untersucht werden, und die vor allem die
Schuld des Mannes, die Schuld des Blickes offenbaren. Fred aber kann sich nicht
mehr in diesen weiblichen Raum einschleichen; Renee ist ihm auf die tückischste
Weise entzogen, nämlich in die Ehe. So kann er nur in ihr anderes, in ihre
zweite Existenz eindringen, dazu muss er sie töten und ein anderer werden.
Oder: er muss sie und sich selbst noch einmal erfinden - und kann doch in
dieser neuen Erfindung wieder nur seiner panischen Kastrationsangst verfallen,
weshalb diese zweite Geschichte (anders als der pure Kino-Traum) weder bloße
Kompensation noch Gegenentwurf sein kann, sondern immer auch Spiegelung und
Wiederholung.
Was die
Konstruktion der Detektion anbelangt, so könnte man sagen, dass auch die
Verhältnisse von Missetat und Recherche ins Kreisen geraten sind. Die Tat
geschieht, um ein weiteres Paradox zu bemühen, indem nach ihren Ursachen
gefahndet wird. Alles beginnt mit der Nachricht, dass alles zu Ende ist.
Auf der nächsten
Ebene ist LOST HIGHWAY so etwas wie ein ästhetisch-philosophisches Gleichnis
über Abbild und Erfahrung. Freds Bekenntnis zu seiner Methode der Erinnerung,
die nicht unbedingt die Dinge meine, «wie sie seien» (und die, wenn sie eine
gewisse ästhetische Dynamik entwickelt, auch als "Kunst" bezeichnet
wird), beschreibt zugleich den Grad seiner Entfremdung. Und umgekehrt. Die
Frage bleibt, ob die Zeit eine Illusion ist. Wie in einer Fuge von Bach geht es
zunächst einmal darum, ein Thema so weit zu transponieren, dass es in der
jeweils neuen Form eine jeweils neue Aussage macht, bis sie schließlich wieder
bei der ursprünglichen Form, allerdings auf einer höheren Ebene (der Tonart)
angelangt ist.
LOST HIGHWAY ist
also einem Bild von Maurits Cornelius Escher verwandt, in dem entweder die
Illusion einer endlosen Bewegung entsteht (etwa durch eine Treppe, die zugleich
endlos bergab und endlos bergauf im Kreise herum führt), oder in dem der
selbstreflektive Gehalt die Auflösung von Abbild und Original erreicht, etwa in
der zeichnenden Hand, die eine zeichnende Hand zeichnet, die eben jene
zeichnende Hand zeichnet. Beinahe wie ein Zitat erscheint die Szene, in der der
Mann Fred sein Handy überreicht, damit er mit ihm selber in seinem Haus
telefoniere. Ihren Sinn erhält diese Methode, weil die jeweils höhere Ebene der
Selbstreflexion am Ende wieder, wenngleich in einer vollständigen
Transponierung, bei der ersten angelangt ist, nämlich der sinnlichen Präsenz
der Entfremdung.
Aber noch einmal
anders gesehen steckt auch in diesem verschlungenen Film die Revolte des
ödipalen Dramas und das rückwärts erzählte Märchen. Das Haunting Image des
drachenbösen Vaters, der die Jungfrau bewacht und dem Prinzen den Tod androht,
wird erst im zweiten Teil exploriert; im ersten Teil dagegen, der mit der noch
rätselhaften Botschaft vom Tod des Haunting Image beginnt, verwandelt sich der
Mann selber ins Haunting Image, den drachenbösen Mann, der die Frau nicht
anders halten kann als durch ihren Tod. Die wahre Schizophrenie offenbart sich
also in dem Umstand, dass der Prinz und der Drache in Wahrheit derselben Person
entsprungen sind.
Auch das Ende von
LOST HIGHWAY erinnert an Dostojewskij; wir verabschieden uns von einem Vorgang,
der endlos weiter gehen könnte, in einer Schmerzensgeste, die alles bedeuten
kann, erneute Verwandlung, Tod, Selbsthass, Erkenntnis: das Zerplatzen der
Fiktionen und Formen. Und wieder verschwindet das Bild in jenes Weiß, das die
Bewegung des Films vorgibt: die Menschen (die Bilder) kommen aus dem Schwarz
und verschwinden ins Weiß.
Der Highway aber
führt endlos weiter in die Nacht. Nirgendwohin und zum Anfang zurück.
Georg Seeßlen, 1997
Dieser Artikel ist
zuerst erschienen im:
Filmbulletin, 2.97, 39. Jahrgang, Heftnr. 211, April 1997
Zu diesem Film gibt’s im
archiv der filmzentrale
mehrere Texte
zur startseite
zum archiv