Lovers
Reine
Liebe
Jean-Marc
Barrs Dogma #5
Ein
Mann und eine Frau. Der nackte Zufall führt sie zusammen, mitten in Paris.
Nach wenigen Minuten - im Leben wie im Kino - sind sie ein Paar.
Die
Kamera folgt ihnen durch die Straßen und in die Häuser, begleitet
sie des nachts in Kneipen und wacht mit ihnen auf. Jeanne (Elodie Bouchez) ist
Buchhändlerin, Dragan (Sergej Trifunovic) ein Maler und ein Flüchtling
aus Ex-Jugoslawien. Aber wer ist Dragan überhaupt, wo genau kommt er her,
was hat er hinter sich? Jeanne weiß es nicht, und der Zuschauer auch nicht.
Wenig mehr erfährt man über den jungen Mann, als dass er illegal in
Frankreich ist, und von der Ausweisung bedroht. Die beiden sind ein ungleiches
Paar; während sie verantwortungsvoll die Liebe ernst nimmt, ist er ein
großes Kind, das viel zu viel trinkt, und auch mal für ein paar Tage
einfach verschwindet.
Regisseur
Jean-Marc Barr ist uns als Schauspieler (u.a. aus Lars von Triers EUROPA) bekannt.
Seinen ersten eigenen Film drehte er nach dem strengen Authentizitäts-Kanon
der dänischen Dogma95-Regisseure. Den größten Teil des Films
über kommt er mit seinen zwei Hauptdarstellern aus, und einem minimalen
Team. Auch drehte er tatsächlich in dokumentarischer Manier auf der Straße,
und verließ damit die geschlossenen Räume und ländlichen Milieus,
in denen die bisherigen Dogma-Filme spielten. LOVERS ist schon darin sehr französisch,
dass er sich - ganz anders als die Dänen - um Familie nicht schert (und
auch das Liebesverhältnis zwischen Jeanne und Dragan kann man hier kaum
als implizite Familiengründung verstehen).
So
wild und frisch wirkt LOVERS, dass man sich zugleich an das spontane französische
Kino früherer Jahrzehnte erinnert fühlt. Zumal Jean-Luc Godards À
BOUT DE SOUFFLE (1960) drängt sich auf, denn auch hier begegnet sich ein
binationales Paar im Herzen von Paris, das nichts gemeinsam hat, ausser seiner
Liebe. Und auch LOVERS ist ein Paris-Film, der uns die Topographie der Stadt
erschließt (Auch indem er die Großstadt zum dritten Hauptdarsteller
machte, fügt Barr Dogma95 etwas Neues hinzu.), Orte zeigt, die neu sind,
Perspektiven, die nicht auf Sehenswürdigkeiten gerichtet sind, und doch
ganz unverwechselbar pariserisch.
Nein,
so gut wie Godard ist Jean-Marc Barrs Film trotzdem nicht. Zuviel Pathos, zuwenig
Ironie liegt in seiner Geschichte, und was die Figur des Dragan angeht, wirkt
er wie ein Verschnitt aus der Balkan-Klischee-Kiste: Versoffen, irrational,
melancholisch.
Wo
Godards Sarkasmus für heitere, weise Leichtigkeit sorgt, inszeniert Barr
die Tragödie: Als Dragan schließlich von der Polizei abgeschoben
wird, kippt der Film endgültig ins elegische Melodram. Minutenlang sehen
wir die zurückgebliebene Jeanne schluchzend die Treppe hinaufsteigen -
eine Szene, die (für mich) nicht funktioniert, weil das ganze Verhältnis
zwischen dem Paar dort eine Behauptung ist, wo es über das Flüchtige
und Zufällige, Spontane, das auch die Bilder ausdrücken, hinausgeht.
Barr hält Liebe für eine irrationale Schicksalmacht, die muß,
was sie muß, und irgendwie stets das Gute repräsentiert. Im Gegensatz
zu ihm weiß Godard, dass so rein und gut wie hier die Liebe nicht ist.
Andererseits:
gerade in dieser naiven Reinheit enthüllt uns Barr zwar kein Geheimnis
der Liebe, dafür aber der Dogma-Gruppe. Denn alle deren bisherigen Filme
müssen als Utopien verstanden werden: Inszenierte FESTEN (DAS FEST; Dogma
#1) ein Aufbrechen familiärer Lebenslügen, entlarvte IDIOTERNE (IDIOTEN;
Dogma #2) die Verkrampfungen der bürgerlichen Gesellschaft, feierte MIFUNE
SIDSTE SANG (Dogma #3) die Flucht in wahlverwandtschaftliche Beziehungen auf
dem Land, so zeigt uns nun LOVERS, was noch bleiben könnte, wenn's auch
im Grünen nicht mehr funktioniert: Ein Mann und eine Frau.
Rüdiger
Suchsland
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Zu diesem Film und zum Thema Dogma 95 finden Sie u.a. mehr im Archiv bei:
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Italienisch für Anfänger (Kritik von A. Thomas)
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Lovers
F 1999 - 90 Minuten -
Regie:
Jean-Marc Barr
Kamera: Jean-Marc Barr
Drehbuch: Pascal Arnold
Besetzung: Elodie Bouchez, Sergej Trifunovic, Irina Decermic, Geneviève
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