zur startseite
zum archiv
Lucie
& Maintenant
Selberautobahnreisen
Auf den Spuren von Julio Cortazar und
Carol Dunlop sind wir in "Lucie et Maintenant" auf den Autobahnrastplätzen
der autoroute de soleil unterwegs.
Im Jahr 1982 setzten der Schriftsteller
Julio Cortazar und seine Lebensgefährtin Carol Dunlop einen schon seit
längerem gehegten Plan um in die Tat. Sie machten sich mit ihrem knallroten
VW Camper-Bus - dem sie den Namen des nibelungenschatzbewachenden Drachen Fafnir
gaben - auf die Reise und fuhren von Paris nach Marseille. Über die Autobahn
A7, die autoroute du soleil.
Es wurde keine gewöhnliche Fahrt und sollte es auch nicht werden. Es gab
nämlich von vorneherein feste Regeln und die zentrale Regel war diese:
Auf der gesamten Strecke würden sie an jedem Rastplatz halten und auf jedem
zweiten übernachten. Es müssen sechsundsechzig Rastplätze gewesen
sein, damals, auf der Autobahn zwischen Paris und Marseille, denn die beiden
waren dreiunddreißig Tage unterwegs. Hatten vitaminreiche Nahrung eingepackt
aus Angst vor Skorbut (sie verglichen ihre Fahrt mit den großen Entdeckungsreisen
der Vergangenheit). Ließen sich zwischendurch von Freunden versorgen,
hielten sich sonst aber ausschließlich ans auf den Rastplätzen gegebene
Nahrungsangebot. Ungewöhnlich an der Reise auch: Die beiden, Cortazar,
Ende sechzig, und seine dreißig Jahre jüngere Freundin waren, was
sie wussten, todkrank. Dunlop starb noch im selben Jahr (an Leukämie).
Das Buch zur Reise - "Die Autonauten auf der Kosmobahn" -, das Texte
von beiden enthält, viele Bilder und auch eine fiktive Rahmengeschichte,
hat Cortazar alleine fertiggestellt. Dann starb, 1984, auch er.
Fünfundzwanzig Jahre später
reist ein junges französisches Künstlerpaar, Oceane Madelaine und
Jocelyn Bonnerave, auf derselben Strecke mit denselben Regeln auf den Spuren
der Vorgänger. Wiederholung mit Differenzen: Der VW Bus ist nicht rot,
sondern weiß und er hat auch keinen Namen. Und der Weg, der einst durch
die Regeln gebahnt war, ist nun doppelt gebahnt: Man folgt nicht der Regel,
sondern den Vorgängern, die den Regeln folgten. Die beiden Nachfahrer kennen,
natürlich, das Buch, in dem die Originalfahrt dokumentiert ist. Sie zitieren
gelegentlich daraus, sie blättern darin, sie vergleichen die Eindrücke
von 1982 mit denen der Gegenwart. (Die Bäume, die klein waren damals, sind
jetzt groß und hoch, ja, herangewachsen zum Wald.) Man kann Madelaine
und Bonnerave beim Wiederholen, Vergleichen und Selberautobahnreisen zusehen,
denn sie sind die Protagonisten in einem Film, den Simone Fürbringer, Nicolas
Humbert und Werner Penzel gedreht haben. Wie sich alles genau verhält -
wie spontan alles ist, ob die Texte, die man per Voiceover hört, die Dialoge,
die die beiden im Film sprechen, Drehbuchzeilen sind oder improvisiert: man
weiß es nicht. Abgesehen von einigen Stellen, an denen tatsächlich
vorgelesen wird oder zitiert. Deleuze/Guattari, zum Beispiel, über Nomadologie.
Oder ein eher dämlicher deutscher Text über die Metaphysik des Wohnens,
man erfährt nicht, von wem. (Man erfährt so vieles nicht, eine seltsame
Gleichzeitigkeit von Text- und Blickproduktionslust und Verweigerungshaltung. )
Absurd war schon die Reise von Dunlop
und Cortazar, unternommen im Bewusstsein ihrer Absurdität und gewendet
ins spielerische Entdecken von poetischen und sonstigen Reizen im Angesicht
des eigenen Todes und ausgerechnet am Rande der Autobahn. Man sollte von ihren
Wiedergängern einen strengen Konzeptfilm erwarten, aber genau das ist "Lucie
et Maintenant" nicht. Viel eher ist der Film impressionistisch. Es geht
ganz - im guten und ein bisschen auch im schlechten Sinne - naiv um die fast
schon wieder gewaltsame Verzauberung und Wiederverzauberung eines transitorischen
Nicht-Orts, wie es die Autobahn und der Autobahnrastplatz ist. Die Kamera hält
zitternd und im Zittern doch auch wild entschlossen fest, was verweht und vergeht,
vorüberrollt und vorüberkriecht: Plastikflaschen, Kaffeebecher, Raupen,
Katzen, Vögel. Die beiden Protagonisten beobachten und behandeln Automaten
wie Wunderdinge. Sanft und zart und in ihrer obstinaten Sanftheit schon auch
in sich selbst verliebt sind die Blicke, die fallen. Sieh, wie der Kaffee fließt.
Schau an, man kann eine Schuhputzmaschine zum Rhythmusinstrument umfunktionieren.
Dazu gibt es, mitunter selbstgemachte, mitunter eingespielte Musik vor Autobahnrauschhintergrund.
Manchmal gelingt die Verzauberung durch Gegenwartsemphase, die "Lucie et
Maintenant" so unbedingt will. Manchmal aber, und je länger der Film
dauert, desto öfter, denkt man sich, dass man einen scheißhässlichen
Ort wie einen Autobahnrastplatz auch mal einen scheißhässlichen Ort
sein lassen muss.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
am 18.06.2008 bei: www.perlentaucher.de
Lucie
& Maintenant
Schweiz
2007 - Originaltitel: Lucie et maintenant - Journal nomade - Regie: Simone Fürbringer,
Nicolas Humbert, Werner Penzel - Darsteller: (Mitwirkende) Océane Madelaine,
Jocelyn Bonnerave - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 80 min.
- Start: 19.6.2008
zur startseite
zum archiv