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Lucy
Drama des Undramatischen
Nichts ist manipulativ
an diesem Film. Es fehlt die eingespielte Musik und es fehlt die Bedienung eingespielter
Sehgewohnheiten. Dabei ist der Geschichte (Geschichte? Kann man diese Szenen
einer Orientierungssuche schon so nennen?) von der 18jährigen, kürzlich
Mutter gewordenen, Maggy, die selbst noch bei der eigenen (auch verhältnismäßig
jungen) Mutter lebt und dann mit Baby Lucy zu ihrem neuen Freund Gordon zieht,
das Vorurteil doch schon eingeschrieben: Noch so jung und schon Mutter...
Natürlich kann
das nichts werden. Staunen macht, dass Maggys Probleme irgendwie doch nicht
ganz unseren Erwartungen entsprechen, dass sie zudem auf ihre eigene Weise daran
laboriert und wohltuend ist, Henner Wincklers Film dabei zuzusehen, wie er viele
genaue, wache Bilder zeichnet, von einem Menschen und seiner sozialen Szenerie
(eine ziemlich repräsentative junge Frau in einer durchaus repräsentativen
wirtschaftlichen Grauzone, die geprägt ist von Arbeitslosigkeit und Single-Dasein,
also auch dem Zerfall familiärer Strukturen), hier: Berlin, die Gegend um den Alexanderplatz, und heute: Das erste Jahrzehnt des 3. Jahrtausends.
Mit systematischer
Konsequenz vermeidet der Film alles Dramatische. Ein Beispiel: Maggy wartet
seit Stunden in der Wohnung auf Gordon. Dann beschließt sie, sich am Kiosk
ein Bier zu kaufen. Sie lässt das Baby in der Wohnung allein, klettert
über die Fussgängerabsperrung um schneller über die stark befahrene
Straße zu gelangen, holt sich das Bier und – kommt wieder heile zu Hause
an. Beispiel Zwei: Maggy hat sich seit ihrem überstürzten Auszug tagelang
nicht mehr bei ihrer Mutter gemeldet, doch nun braucht sie dringend einen Babysitter.
Ihre Mutter ist sofort verständnisvoll und kümmert sich um das Kind.
Eine „Milieustudie“ hätte beide Szenen zur Kulmination der einschlägigen
Problematik getrieben, indem sie zuerst Maggy von einem Auto anfahren hätte
lassen und später dann ihre Mutter (die wahrscheinlich Alkoholprobleme
hätte) entweder zu besoffen oder zu böse sein lassen, um ihre Tochter
zu unterstützen.
„Lucy“
geht es nicht um die schnelle Emotion, nicht um die Katastrophe - erkennbar
als Folge mieser Verhältnisse - sondern um einen leisen, andauernden Zustand,
der noch unbenannt sich im Alltäglichen und Normalen verbirgt. Selbst Begriffen
wie „Alltag“ und „Normalität“ scheint der Film schon zu misstrauen und
das tut ihm gut, weil er versucht einfach nur wahrzunehmen: Gordon, der in der
Disco „Matrix“ kellnert und übers Internet Computerteile verkauft, zur
Entspannung fährt er Autorennen am Computer, mit Kopfhörern auf den
Ohren hört er nicht, wie das Kind schreit. Eva, Maggys alleinstehende Mutter,
die gerade mit einem Russen eine neue Liebesgeschichte beginnt. Maggy, die zwischen
Fläschchen und Joint noch gerne verträumt in ihrem eigenen Kinderzimmer
sitzt. Gesichter, abends, im Widerschein: Der Fernseher bleibt unsichtbar, aber
man hört ihn die Klassiker des Thrillers (Soundtrack: Bernhard Herrmann)
und Horrorfilms (Soundtrack: John Carpenter) spielen. Christine Maiers („Nordrand“, 1999, „Grbavica“, 2006) zurückhaltende
Kamera studiert Menschen, die fixiert sind inmitten ihrer Zerstreuungen: Fernseher,
Computer, Party, und auf den Straßen Ströme von Autos.
Am Rand und doch im
dezidierten Film-Zentrum das sprachlose, manchmal schreiende Baby, das Maggys
Bedürfnisse ignoriert und häufig von Maggy ignoriert wird - und doch
allgegenwärtig ist und ihr Leben bestimmt. Maggy als zweite Hauptfigur,
überfordert in ihren verschiedenenen Rollen und kaum in der Lage, etwas
zu geben, wenn sie nicht genug für und von sich selbst hat, jenseits einer
Selbstdefinition und -Artikulierung. Wie spielt man coole Freundin, wie kann
man noch Tochter bleiben und schon Mutter sein und wie spielt man kleine, glückliche
Familie?
Henner Winckler, der
mit „Klassenfahrt“(2002) ein beachtliches Film-Debüt gab, gehört neben Thomas
Arslan ("Der schöne Tag", 2001), Benjamin Heisenberg ("Schläfer", 2005), Christoph Hochhäusler ("Falscher Bekenner", 2006), Valeska Grisebach ("Mein Stern", 2001, „Sehnsucht“2006), Ulrich Köhler ("Bungalow", 2002), Jan
Krüger ("Unterwegs", 2004), Christian Petzold ("Die innere
Sicherheit", 2000), Angela Schanelec ("Marseille", 2004)) zu den Regisseuren der „Berliner Schule“, deren Filme
unaufgeregt nach blinden Flecken in unserer soziokulturellen Selbstwahrnehmung suchen, sich
mit Rissen, Unsicherheiten, Randexistenzen direkt in der Mitte unserer schönen
neuen Welt beschäftigen.
Auch Wincklers „Lucy“
ist ein Film, der nicht versucht, den Zuschauer zu überwältigen (darin
ist auch er ein deutlicher Antipode zum Hollywood-Kino). Gerade durch die Vemeidung
von Effekt oder Affekt erreicht er seine Genauigkeit und Intensität. Deshalb
ist seine Kraft vielleicht nicht augenfällig, aber umso nachhaltiger. Wincklers
Film versucht, das Leben genau zu betrachten, besonders an den Stellen, wo es
normalerweise unscharf bleibt. Dass sein Film nichts weiter bietet als einen
geduldigen Blick, das macht ihn zu einer beileibe nicht selbstverständlichen
Erfahrung. „Lucy“ nimmt den Menschen ernst, den als Sujet und den als Zuschauer.
Zur DVD:
Neben einem Interview, in welchem der (sichtbar erkältete) Regisseur Winckler Interessantes über seine zwischen Drehbuch und Improvisation changierende Arbeitsweise mit jungen (Laien-) Darstellern verrät und einem weiteren kurzen Interview mit der Hauptdarstellerin Schnitzer enthält die DVD Trailer weiterer Filme, die der "Berliner Schule" zugeordnet werden. Eine weitere Beigabe ist der schöne Kurzfilm "Baden" von Stefan Kriekhaus, der als Ko-Autor an den beiden Winckler-Filmen "Klassenfahrt" und "Lucy" beteiligt war und der in Ulrich Köhlers "Montag kommen die Fenster" (2006) in einer Nebenrolle auftaucht.
Andreas Thomas
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Lucy
Deutschland
2006 - Regie: Henner Winckler - Darsteller: Kim Schnitzer, Gordon Schmidt, Feo
Aladag, Polly Hauschild, Ninjo Borth, Ganeshi Becks, Jakob Bieber, Klara Manzel,
Gerdy Zint, Jakob Panzek, Marc Zwinz, Anton Levit - FSK: ab 12 - Länge:
92 min. - Start: 29.6.2006
DVD
Daten: codefree, Ton DD 2.0, Bild 16:9
Sprachen: deutsch / Untertitel: keine
Extras:
- aktuelles Interview mit Henner Winckler und mit Kim Schnitzer
- Kinotrailer
- Fotoschau
- Kurzfilm "Baden" von Stefan Kriekhaus
empf. VK: 19,90 EUR, Bestellnummer: 45372, EAN-Code: 9783937045726 , ISBN: 978-3-937045-72-6
Seit 17.9.07 auf DVD bei www.filmgalerie451.de
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