zur
startseite
zum
archiv
Lucy
Kernfamilie
spielen
Henner
Wincklers schönes, präzises Teenager-Drama „Lucy“ erzählt anhand
einer 18-jährigen Mutter von erwachsenen und jugendlichen Lebensentwürfen.
In
einem Berliner Park wird eine Beziehung aufgelöst: Die achtzehnjährige
Maggy (Kim Schnitzer) gibt dem Exfreund Mike trotzig diverses geborgte oder
geschenkte Zeug zurück und tauscht mit ihm verstockte, viel sagende Feindseligkeiten
aus. Wo er denn das Geld her habe, um sein frisch gekauftes Haustier, einen
Welpen, zu versorgen, fragt Maggy missgünstig. Darauf Mike: „Wenigstens
ist der treu.“
Diese
allererste Szene, aufgelöst in einer einzigen, kaum bewegten Einstellung,
gibt die Erzählhaltung von „Lucy“ exakt wieder: Statt detaillierter Ausführungen
zu Psychologie und Vorgeschichte der Figuren ein insistierendes Starren auf
soziale Interaktionen in kleinen Raumausschnitten. Statt ausfabulierter Handlungsbögen
eine Reihe von Szenenstümmeln und -stümpfen, die beiläufig vorüberziehen,
aber enorm pointiert und erzählökonomisch genau gesetzt sind.
Dass
Maggy und Mike bereits Eltern eines Kindes, der Titel gebenden Lucy, sind, das
zeigt uns Winckler erst nach der Trennungsszene, in einer denkbar lapidaren
Sequenz, die zugleich den Grundkonflikt des Films zuspitzt: Abends möchte
Maggy mit Freundinnen fortgehen und muss dazu erst ihren ehemaligen Schulkollegen
Daniel, ein hilflos in sie verliebtes Milchgesicht mit Gipsarm, unter dem Vorwand
eines „wichtigen Vorstellungsgesprächs“ zum Babysitten überreden.
Maggy
wäre ihrem Kind gerne eine „gute“ Mutter, sehnt sich sogar nach einer eigenen,
intakten Familie. Nur kann sie weder einen brauchbaren Vater finden, noch will
sie ihre Ansprüche an ein Teenie-Privatleben aufgeben. Diesen Konflikt
zwischen Mutterschaft und adoleszenten Sehnsüchten inszeniert Winckler
löblicher Weise nicht als moralischen zwischen Pflicht und Neigung, sondern
als einen zwischen inkompatiblen gesellschaftlichen Rollenmustern. Maggys unstetes
Schwanken zwischen verschiedenen Lebenskonzepten wird nie abgekanzelt, sondern
macht sie inmitten einer ganzen Galerie von infantilen Männern zur eigenständigsten
Figur des Films.
Ein
romantisches Pathos des orientierungslosen Taumelns oder slackerhaften Dahinwurschtelns
(wie in den Filmen von Richard Linklater oder Olivier Assayas) will Winckler
den Identitäts-Unsicherheiten seiner Heldin aber auch nicht abgewinnen.
Stattdessen betont er an Maggys Suche nach einem annehmbaren Lebensentwurf den
Experimentcharakter: Gemeinsam mit dem entspannten Barkeeper Gordon (Gordon
Schmidt), bei dem sie nach einem Streit mit ihrer Single-Mutter einzieht, versucht
sie provisorisch, Kernfamilie zu spielen. Zumindest so lange, bis Gordon beginnt,
mit Kopfhörern Computer zu spielen, um das Baby nicht mehr schreien zu
hören.
Einen
Sinn für das Rollenspielhafte, Eingelernte „jugendlicher“ wie „erwachsener“
Verhaltensmuster vermittelt Winckler dabei vor allem über deren gezielte
Wiederholung und Variation: Am Frühstückstisch, an dem wir Maggy und
Lucy öfter sitzen sehen, nimmt einmal der kindliche Daniel und einige Tage
später Gordon Platz. Und auf unheimliche Weise gleiten beide sofort, ganz
automatisch, in die Vaterrolle hinein.
Joachim
Schätz
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Falter
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Lucy
Deutschland 2006 - Regie: Henner
Winckler - Darsteller: Kim Schnitzer, Gordon Schmidt, Feo Aladag, Polly Hauschild,
Ninjo Borth, Ganeshi Becks, Jakob Bieber, Klara Manzel, Gerdy Zint, Jakob Panzek,
Marc Zwinz, Anton Levit - FSK: ab 12 - Länge: 92 min. - Start: 29.6.2006
zur
startseite
zum
archiv